Lied der Wale
zwei Jahre später eine Handelsdelegation in die USA begleiten durfte, ergriff sie die Gelegenheit beim Schopf und setzte sich ab.
Es war ihr zweiter Tag in Chicago gewesen. Wie den anderen Mitgliedern der Delegation, war ihr vom Delegationsleiter der Pass abgenommen worden, wie die anderen wurde sie rund um die Uhr bewacht. Doch das Hotel war zum Bersten voll, was sich in den Fahrstühlen besonders bemerkbar machte. So versteckte sie sich, statt in der Lobby auszusteigen, hinter dem Rücken eines besonders korpulenten Mannes mit Cowboyhut. Bis in die Tiefgarage hielt sie den Atem an. Und mit nur einem Dollar fünfzig in der Tasche – mehr Devisen hatten sie nicht erhalten – rannte sie hinaus auf die Straße und direkt unter die Räder eines Postautos. Konfus vor Schmerzen, missdeutete sie die Uniform des erschrockenen Postbeamten und bat ihn um politisches Asyl.
In den nächsten Wochen war sie ein hysterisches Wrack, vermutete hinter jeder Gestalt Ceaușescus Geheimagenten, die sie mit Drogen vollpumpen und aus dem gelobten Land entführen wollten. Doch niemand schien sich für sie zu interessieren. Von Chicago aus zog sie zu Verwandten nach New York, wo sie an der Ecke Madison und 73. Straße ihren zukünftigen Mann traf. Zwischen die Augen. Mit einer Mandarine. Die wollte sie eigentlich ihrer Cousine Maja zuwerfen, verfehlte sie aber um drei volle Meter. Hektisch wischte sie den Saft von seiner Krawatte – es war Liebe auf den ersten Blick. Ein Jahr später wurde sie Mrs Cullin, und ihr sehnlichster Wunsch war es, nicht nach ihm zu sterben.
N a, du Furie, siehst ja leichenblass aus.«
Leah blickte von ihrem Ordner auf. Sie merkte, dass sie immer noch auf ihren ersten selbst verfassten Artikel über McGregor gestarrt hatte. Geoffrey stand im Türrahmen und mampfte ein Sandwich.
»Hab dir auch eins mitgebracht.« Er warf ihr das zellophanverpackte Brot zu und setzte sich auf die einzige noch freie Ecke ihres Schreibtisches.
»Ich hab mich nur in den alten Unterlagen vergraben.«
Der Thunfisch mit Mayo schmeckte grauenhaft.
»Und, machst du Fortschritte?«
Geoffrey war nicht wegen McGregor gekommen, das spürte Leah deutlich. Sie warf das Sandwich in den Mülleimer und streckte sich – selten verharrte sie so lange am Schreibtisch. Das Erste, was sie sich ausbedungen hatte, als sie hier in der Redaktion anfing, war ein schnurloses Telefon. Denn sie brauchte Bewegung. Ein Telefonat war um einiges netter, wenn der Blick dabei über den Potomac schweifen konnte, und das nacheinander aus allen drei Fenstern des Büros.
»Was ist los, Geoffrey?«
So kratzbürstig und überheblich Geoffrey manchmal auch war, so verhalten konnte er sein, wenn es um persönliche Dinge ging. Also räusperte er sich erst einmal und schlenderte dann bedächtig zum Fenster, wo er sich gemächlich auf die Ablage niederließ.
»Das haut so nicht hin, Leah, so kann das auf Dauer nicht gehen.«
»Was meinst du damit?«
»Ich meine deinen Stammhalter. Ich mag den Kleinen, auch wenn er es einem nicht leicht macht. Doch du fährst mir immer in die Parade.«
»Meinst du wirklich, wir sollten das jetzt und hier ausdiskutieren?«Manchmal war sein Timing das eines Weihnachtsmanns, der zu Ostern auftauchte.
»Wann sonst? Wenn ich das Thema bei dir zu Hause anspreche, ist der Filius entweder wach oder du nicht mehr. Wenn wir ausgehen, meinst du ebenfalls, es sei nicht der richtige Zeitpunkt. Also wann?«
Leah seufzte. »Nie«, dachte sie und wusste, wie ungerecht das war. Geoffrey gab sich wirklich Mühe. O. k., nicht immer so, wie sie es gerne gehabt hätte, doch er mochte den Jungen. Und das war immerhin ein dicker Pluspunkt. Insbesondere, da Michael keinem Mann seit Timothy das Leben leicht gemacht hatte. Fast ein Wunder, einen zu finden, der es einfach so hinnahm, dass sie ein Kind hatte. Und ein Sechser im Lotto, einen zu finden, der sich auch noch um die Zuneigung dieses Jungen bemühte.
»Wie soll das funktionieren, wenn du ihm immer recht gibst, wenn er mir ans Bein pinkelt? Jedes Mal, wenn ihm was nicht passt, rennt er zu Mami, und du gibst mir hinterher eins auf den Deckel.«
»Er ist schließlich mein Sohn !«, sagte sie verärgert.
»Ja, er ist dein Sohn, nur muss er sich auch mit mir auseinandersetzen. Wenn es ihm nicht passt, Dad zu mir zu sagen, dann soll er es mir mitteilen. Es war ein Angebot, keine Drohung!« Auch Geoffreys Augen blitzten jetzt auf.
»Das ist unfair. Er hängt an seinem Vater.«
»Aber sein
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