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Lied der Wale

Lied der Wale

Titel: Lied der Wale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D Thomas
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ihr Selbstvertrauen zu stärken. Honig schmierte er ihr dabei nie um den Mund, und gerade deshalb galt ihr sein Lob besonders viel. Ja, er war ein Patriarch, wie er im Buche stand. Aber auch der feste Punkt in ihrem Leben. Der Gedanke, dass sie seinen Tod verschuldet hatte, war unerträglich.
    Bereits am Tag nach der Beerdigung rief der Anwalt wieder an, und Leah und ihrer Mutter blieb keine andere Wahl, als sich endlich mit ihm auseinanderzusetzen. Er war nicht unsympathisch, ein Sunnyboy mit Betonung auf »Sunny«, und er stellte sich ihnen als der Rechtsanwalt von Leahs Vater vor. Nicht einmal zehn Minuten benötigte er, um ihrer beider Leben endgültig aus der Bahn zu werfen, indem er ihnen eröffnete, was Leahs Muttervöllig unvorbereitet traf und Leah das Ausmaß der Katastrophe in Zahlen fassen ließ. Mr Cullin hatte seine gesamten Reserven in Harriman gesteckt, an die 300 000 Dollar. Reserven war übrigens nicht ganz das richtige Wort: Es war das gesamte noch übriggebliebene Kapital seiner Firma. Er hatte es eingesetzt, um in vier Wochen satte 250 Prozent Steigerung zu erleben. Und in den darauffolgenden vier Wochen einen Kurseinbruch auf 5,7 Prozent des Ausgangswertes.
    »Was heißt das?«, fragte ihre Mutter.
    Leah hatte das Gefühl, platzen zu müssen, wenn sie nicht augenblicklich zu schreien anfing. Oder irgendetwas, wie zum Beispiel diesen marmornen Aschenbecher, der auf dem kleinen Besuchertischchen so adrett platziert war, auf den Boden schmetterte. Die Apathie der letzten Tage war von ihr gewichen und hatte einer unbändigen Wut Platz gemacht. Sie fühlte sich wie eine Raubkatze, der man den Schwanz angezündet hatte.
    »Das heißt«, fauchte sie, »dass alles futsch ist.«
    Ihre Mutter sah sie mit einer Mischung aus Verständnislosigkeit und Befremden an. »Wie, alles?«
    Hilfesuchend wandte sich ihre Mutter wieder dem Anwalt zu, dessen Geste die Bedeutung von »alles« besser als jedes Wörterbuch veranschaulichte.
    Leah hatte lange genug in der Wirtschaftsredaktion gearbeitet, um wenigstens in groben Zügen zu wissen, wie sich Haftungen bei den verschiedenen Unternehmenstypen darstellten. Und bei der Firma ihres Vaters handelte es sich um ein gänzlich auf privatem Kapital basierendes Unternehmen. Dad haftete also persönlich mit seinem Vermögen. Und wenn das nicht ausreichte, weil ihm zudem ein gewisser Harriman sein Lebenslicht ausgeblasen hatte, dann hafteten eben die Erbfolger. Im Klartext: Ihre Mutter konnte sich eine billige Wohnung suchen, denn das Haus, das sie gemeinsam gebaut hatten, war futsch. Die Lebensversicherungen– futsch. Der wunderschöne alte Buick – futsch. Sollte ihre Mutter noch ein Sparbuch mit ein paar Dollar darauf haben – weg. Auch Leahs Lebensversicherung – alles würde in der großen Tonne mit der Aufschrift »Harriman« verschwinden.
    Als Leah sich wieder beruhigt hatte, klebten die Kleidungsstücke an ihrem Körper, als hätte sie soeben einen Triathlon absolviert.
    Langsam schien ihre Mutter zu begreifen, worum es hier ging: ihre Existenz.
    »Mein Gott«, sagte sie und sackte zusammen, als hätte man alle Fäden gekappt, an denen sie ein Leben lang sicher aufgehängt war.
    D ie persönliche Bilanz Leahs und ihrer Mutter im Jahre eins nach Harriman bestand in der Bereinigung des Lebens um schnöde materielle Werte. Nach harten Verhandlungen mit der Bank ihres Vaters fingen ihre Mutter und sie bei null an, da ihrer beider Besitz die aufgelaufenen Schulden fast deckte. Mit der sofortigen Offenlegung ihres Vermögens verhinderten sie weiterreichende Forderungen.
    Da Leahs Haus zum Glück nicht das ihre war, sondern rechtlich gesehen Timothy gehörte, konnte sie mit ihrer Familie darin wohnen bleiben. Ihre Lebensversicherung wurde gepfändet, ihr Wagen verkauft, und auch ihr Sparkonto für Michaels Collegeausbildung ging in den Besitz der Bank über. Für ihre Mutter sah es schlimmer aus: Sie wollte nicht zu ihnen ziehen, quartierte sich stattdessen in einer billigen Zweizimmerwohnung ein, und nach dreißig Jahren, in denen sie nicht hatte arbeiten müssen, nahm sie einen Job als Kassiererin im Supermarkt an.
    Doch Elisabeth Cullin war zäh, sie würde es schaffen. Genauso,wie sie damals ihre Flucht geschafft hatte. Als sie sich im Alter von achtundzwanzig Jahren entschied, Englisch-Dolmetscherin für das Auswärtige Amt zu werden, geschah dies nur aus einem einzigen Wunsch heraus: dem Regime in Bukarest, sobald es nur irgendwie ging, zu entkommen. Als sie

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