Lied der Wale
Vater ist tot. Und das seit drei Jahren. Und nach all dem, was du inzwischen erfahren hast, gebührt ihm nicht gerade ein Sockel, auf dem er sich in Ruhm und Ehre sonnen könnte.«
Leah wollte gerade lospoltern, das gebe ihm noch lange nicht das Recht, diese Position für sich einzunehmen, als Geoffrey die Hände hob. Leah blickte ihren Lebenspartner, Freund, Liebhaber an – was, verdammt noch mal, war er eigentlich genau?
»Gib uns ein Wochenende«, bat Geoffrey. »Nur er und ich. Wir fahren an den See, angeln. Oder sonst wohin – was auch immer er gerne macht.«
»Ich glaube nicht, dass er das will.«
»Ich auch nicht. Aber anders wird es nicht funktionieren. Er muss sich einmal mit mir auseinandersetzen. Nur mit mir.«
Leah zögerte. Er gab nicht auf, das musste sie ihm lassen. Und doch wehrte sich etwas in ihr bei dem Gedanken, ihren Sohn zu ein paar Tagen mit Geoffrey zu verdonnern. »Er ist noch nicht so weit.«
Geoffrey seufzte. »So, wie du es anstellst, wird er nie so weit sein.«
»Er braucht Zeit.« In dem Moment, in dem sie es aussprach, kam es ihr selbst wie eine abgedroschene Phrase vor.
»O. k., lass uns noch ein bisschen warten.«
Na also. Manchmal war er richtig einsichtig.
»... am besten, bis er das College hinter sich gebracht hat.« Mit diesen Worten war er aufgestanden und zur Tür gegangen. »Geoffrey!«
Er blieb im Hinausgehen einen kurzen Moment stehen. »Nein, ist schon o. k. Vielleicht warten wir einfach noch, bis er uns irgendwann im Pflegeheim besucht.« Dann schloss er die Tür.
Es hatte keinen Sinn, ihm jetzt hinterherzurennen. Außerdem wollte sie sich nicht auf das Thema Geoffrey und Michael einlassen. Zu oft hatten sie darüber diskutiert, jedes Mal endete es damit, dass entweder einer von ihnen eine Tür zuknallte oder sie sich liebten, um die Spannung wieder abzubauen. So prickelnd diese Momente der Lust waren – deren Auslöser empfand Leah als ungesund.
Sie zwang sich, ihren Blick erneut auf den Ordner zu heften. Blätterte um. Und hatte den Artikel vor sich liegen, den sie damalsals Nächstes geschrieben hatte, in der Nacht nach dem Gespräch, in dem ihnen der Anwalt ihres Dads den Boden unter den Füßen weggezogen hatte. Es war die Nacht, in der Leah ein neues Ziel in ihrem Leben fand: den Mann zur Rechenschaft zu ziehen, der das zu verantworten hatte. Gab es Journalisten, denen persönliche Gefühle bei einer Sache den Schreibstil verdarben, so war es bei ihr umgekehrt. Wenn sie in Rage geriet, war sie unschlagbar. Ihre Kommentare zu McGregors Pleitefonds waren bissig und voller Ironie und zielten alle auf die Hauptschlagader, nämlich die Frage, ob der Crash nicht vermeidbar gewesen wäre.
Jimmy und Stanton hatten sie gewähren lassen, solange sie gut recherchierte Fakten präsentierte. Und das tat sie. Sie rollte McGregors Leben vor dem Zusammenbruch auf. Deckte auf, dass der Mann, der jetzt so viele Anleger in den Ruin getrieben hatte, in den letzten Jahren schätzungsweise ein Vermögen von mindestens 400 Millionen Dollar angehäuft hatte.
Die Auswirkungen an der Börse folgten auf dem Fuße. So wie Stanton es prognostiziert hatte, rutschten auch McGregors andere Fonds ab, und nach wenigen Wochen schien der gesamte Markt für Hedgefonds zu leiden. Ein wahres Kursgewitter war die Folge.
McGregor wehrte sich heftig gegen alle Vorwürfe und das, was Leahs Zunft gegen ihn vorbrachte. Er dementierte und leugnete, und schon nach wenigen Wochen waren seine Auftritte im Fernsehen nicht mehr ganz so brillant. Was dann aber auch keine Rolle spielte, denn bald darauf wollte ohnehin kein Sender mehr über ihn berichten.
Mit ihren Artikeln hatte Leah schließlich zwei Dinge erreicht. Zum einen trug sie nicht unwesentlich dazu bei, dass David McGregor erst recht ins Straucheln geriet. Zum anderen hatte sie den Mann wahrscheinlich besser kennengelernt als jeder andere.Schließlich gönnten ihm die Sender noch einmal ein paar Minuten Redezeit. Auf allen Kanälen erklärte McGregor, dass er sich aus dem Börsengeschäft zurückziehen werde.
Er gab keine Auskunft darüber, was er zu tun gedachte. Und Leah setzte sich erneut an den Rechner und verfasste den letzten Beitrag über den Mann, der so viel Elend über ihre Familie gebracht hatte. Eine finale Abrechnung, in der sie nochmals seine Karriere darstellte, auf sein persönliches Vermögen einging und sein Unvermögen, ein Frauenherz ungebrochen auf seinem Lebensweg zurückzulassen. Später strich sie alles
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