Lied der Wale
wäre zufällig zusammen mit Timothy und drei anderen von der Lawine überrascht worden. Susan wusste schon davon. Sie begleitete Leah in die Schweiz und half ihr, sich um die Formalitäten zu kümmern. Dabei gelang es ihr nicht zu verhindern, dass Leah mit Cynthias Mutter ins Gespräch kam, und auch nicht, dass sie damit die Wahrheit über Timothy erfuhr.
Einen Monat lang fraß Leah alles in sich hinein. Einen Monat lang, in dem sie sich nicht zugestand, sich ihrem Leid hinzugeben wie damals nach dem Tod ihres Vaters. Michael zuliebe, der ihren Beistand dringend benötigte. Also verdrängte sie jede andere Gefühlsregung aus ihrem Herzen. Sie verbot sich das Weinen, verbot sich, Kummer zu zeigen, und zwang sich zu einer Normalität, die selbst ihrem Sohn suspekt vorkam.
Dann fing sie an zu trinken. Sobald Michael über das Gröbste hinweg war und von sich aus darum bat, während der Osterferien ins Camp fahren zu dürfen, griff sie zur Flasche und ließ sie nicht mehr los. Verzweifelt wandte sich ihre Mutter an Leahs beste Freundin. Einen Tag später zog Susan bei Leah ein. Doch als es selbst ihr nicht gelingen wollte, Leah aus dem Badezimmer zu locken, in dem sie sich mit ein paar Flaschen Jack Daniels verbarrikadiert hatte, beschloss Susan, ihr die Schocktherapie durch die geschlossene Tür zu verabreichen. Es wirkte. Die Tür öffnete sich, und um Susans gewagte Aussage schwarz auf weiß bewiesen zu sehen, durchblätterte Leah Timothys Adressbuch. BeimBuchstaben B hatte sie endgültig begriffen, dass die naturblonde Cynthia nicht die Einzige war, mit der er sie hintergangen hatte. Jedes andere Wort war überflüssig, Susan musste nichts weiter tun, als Leahs Kopf die nächsten Stunden über der Schüssel zu halten.
Um alle positiven Gefühle für Timothy gänzlich auszulöschen, recherchierte sie in einem Anfall von Masochismus diskret in der Medical School weiter. Sie wusste, wie man Fragen stellte, also bekam sie auch Antworten. Dr. Stanford war in der Tat kein Kostverächter. Kein Wunder, dass er sich zu Hause wie ein Mönch gebärdete, sein Pulver verschoss er auf dem Campus. Die Wut über die Erniedrigung, ihn um körperliche Zuwendung fast angebettelt zu haben, beschleunigte den Heilungsprozess besser als jedes Medikament. Nur manchmal, gelegentlich, wenn ihr Sohn im Brustton der Überzeugung verkündete, er wolle, wenn er groß sei, genauso werden wie sein Papa, musste sie kurz innehalten, um das Gift, das die Erinnerung immer noch in ihr aufwallen ließ, zu neutralisieren. Doch weil Timothy tatsächlich meistens ein liebender, einfühlsamer Vater für Michael gewesen war, beschloss sie, die Wahrheit – dass er bereit gewesen war, sie beide wegen einer anderen zu verlassen – mit ins Grab zu nehmen.
I n Minneapolis musste sie den Flieger wechseln. Sobald sie mit ihrem Sitz in Berührung kam, glitt sie zumindest für eine Weile in Morpheus’ Arme, den Rest der Zeit versuchte sie mit dem Anschauen von zwei Filmen zu überbrücken. Neun Stunden nach ihrem Abflug aus der Hauptstadt landete ihr Flugzeug in Anchorage. Eiskalter Wind schob Wolkenberge wie auf einem übergroßen Rangierbahnhof über den Himmel. Nur an ein paar Stellen konnte sie die schneebedeckten Gipfel der Coast Ranges im Südwesten erkennen.
Sie stellte ihre Uhr vier Stunden zurück. Hier war es zehn nach zwei, in D. C. war es zehn nach sechs, und sie fühlte sich, als wäre es bereits zehn nach zwölf. Sie nahm ihre Reisetasche in Empfang und wurde gleich darauf zum Anschlussflug nach Kodiak mit Alaska Airlines gelotst. Sie kannte sich mit den verschiedenen Airlines nicht aus, doch die Maschine von Alaska Air war mit einem Eskimo auf dem Leitwerk verziert, was die Boeing 737 unverwechselbar machte.
Kaum war Leah in Kodiak aus dem Flugzeug gestiegen, als sie bereits den an der Treppe wartenden Mitarbeiter der FishGoods Inc. wahrnahm. Er schwenkte ein Schild mit ihrem Namen und bedeutete ihr, sie solle sich beeilen. »Sakomosheti mein Name. Wir sind startklar.«
»Was für ein Service, ich bin beeindruckt.«
»Kommen Sie bitte hier entlang.«
Er hatte ihr die Tasche abgenommen und führte sie zum wartenden Jeep. Das Wetter in Kodiak sah freundlicher aus als in Anchorage, doch der Wind schnitt ihr frostig ins Gesicht. Leah konnte sich nicht helfen, Sakomo-wie-auch-immer-sein-Name-war schien ihr nicht sonderlich sympathisch: Es handelte sich um den Typus des aufstrebenden Karrieremannes, derzeit noch auf einem Referentenposten, aber
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