Lied der Wale
»kotz-würg«. Doch mangels Alternativen und dank plumper Bestechung durch fünf neue Spiele für seine Playstation lief die Auseinandersetzung glimpflicher ab als erwartet. Kein Glanzstück im Repertoire kindererzieherischer Maßnahmen, aber diesmal war sie gezwungen, tief in die Kiste schmutziger Tricks zu greifen.
Bereits um Viertel nach sechs war sie aus dem Bett, Michael schlief Gott sei Dank noch, und Geoffrey würde erst in einer halben Stunde eintreffen. Von draußen klatschte Regen an die Fenster und versprach Trübsal. Nicht gerade ein idealer Tag zum Reisen.
Leah war todmüde, Grund dazu hatte sie reichlich. Die halbe Nacht hatte sie wegen Michael kein Auge zugetan. Und da sie sich völlig im Klaren darüber gewesen war, dass sich in der zweiten Hälfte der Nacht ihr Gewissen auch nicht beruhigen würde, hatte sie schließlich zu einem Buch gegriffen, von dem sie glaubte, dass es sie wie ein ultimativer Crashkurs in die Welt der Wale einführen würde.
Offenbar hatte sich der Autor bei der Beschreibung in Superlative verliebt: Da war die Rede davon, dass die Zunge eines ausgewachsenen Blauwals so viel wog wie ein ganzer Elefant oder dass sein Körpergewicht mehr als 200 Tonnen ausmachte und sein Maul ohne Schwierigkeiten 100 Kubikmeter Wasser aufnehmenkonnte, wenn der Wal seine Kehlfurchen nur weit genug dehnte. Ohne Zweifel eine stark gefährdete Population. Noch gab es ein paar Exemplare auf der Erde, doch konnte keiner voraussagen, ob ihre Anzahl ausreichen würde, das Überleben der Spezies zu sichern. Wissenschaftler waren sich uneins darüber, ob es sich um ein paar Hundert oder ein paar Tausend Tiere handelte, denn die Wale hatten es vorgezogen, Volkszählungen zu vermeiden. Mit Sicherheit konnte nur gesagt werden, dass der Blauwal das größte Tier war, das je auf der Erde existiert hatte. Ob er das auch bleiben würde, war ungewiss. 275 000 Blauwale sollte es einmal gegeben haben. Während man 1989 noch glaubte, dass ihr Bestand wieder auf zehntausend Stück ansteigen würde, musste die International Whale Commission schon bald darauf die traurige Nachricht verkünden, dass im Laufe unzähliger Forschungsfahrten über einen Zeitraum von zehn Jahren nicht mehr als 453 Blauwale gezählt wurden.
Zahlen, Zahlen, Zahlen. Leah bemühte sich, einige davon zu behalten, doch beeindrucken konnte diese Faktenoffensive sie nicht. Man versuchte offenbar, auf die Tränendrüse zu drücken, indem man moralinsauer auf die Bösen deutete, die es wieder mal geschafft hatten, die Welt ein bisschen schlechter aussehen zu lassen. Wale hin, Wale her, eigentlich ging es hier kaum um etwas anderes als den Fang von Meerestieren, besonders großen Meerestieren, die zugegebenermaßen zu den Säugetieren gehörten – so wie Rinder eben auch. Bedrohte Rinder, o. k., ähnlich wahrscheinlich den Büffeln, von denen einst dreißig Millionen über die Steppen Amerikas zogen, bis sie von weißen Siedlern auf ein paar Tausend Stück dezimiert wurden. Ein trauriges Kapitel, doch auch ein verschmerzbares, denn mittlerweile war ihre Zahl wieder stark am Wachsen.
Endlich, gegen zwei Uhr morgens, waren Leah die Lider schwer geworden, doch ihr Schlaf war unruhig. Sie träumte voneinem kleinen Boot, in dem sie sich gegen riesige Wellenberge zu behaupten versuchte, während Michael, der offenbar im Meer hinter ihr schwamm und gegen die Strömung ankämpfte, sich immer mehr vom Boot entfernte. Als sie ihm ins Wasser folgen wollte, wurde sie von Geoffrey zurückgehalten. Sie setzte sich zur Wehr, doch plötzlich hatte Geoffrey einen Strick in den Händen und fesselte sie an den Mast. Er wollte doch nicht etwa, dass Michael ertrank? Schweißgebadet schreckte Leah aus dem Schlaf hoch – eindeutig genug für diese Nacht. Die Dusche weckte ihre Lebensgeister, und sie begann, die Tasche fertig zu packen.
Nur die warmen Pullover fehlten noch. Da die Schurwollungetüme zu viel Platz wegnahmen, abgesehen davon, dass sie ihre Figur so gut zur Geltung brachten wie ein russischer Raumfahrtanzug, stopfte sie an ihrer Stelle zwei Fleece-Sweatshirts hinein. Während sie sich gerade einen dritten Arm wünschte, um die vermaledeite Tasche endlich schließen zu können, tapste Michael ins Schlafzimmer und sah sie mit einer Mischung aus Traurigkeit und Vorwurf an – wie schon so oft, wenn sie sich aufgemacht hatte, der Welt ein paar wichtige Geheimnisse zu entreißen. Sein Blick war das Weckerklingeln, das ihr schlechtes Gewissen aufscheuchen
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