Lied der Wale
Vogel sanft und schonend behandeln, brauchen wir eine Ewigkeit.Sie sind tot, und das ändert sich auch nicht, wenn wir das Messer beiseitelassen.«
Für einen kurzen Moment hielt Leah inne, doch sie begriff, dass er kein pietätloses Monster war, natürlich hatte er recht, angesichts dieses endlosen Elends ... Sie war auf so etwas nur nicht vorbereitet gewesen. Es war einfach zu grauenhaft, zu unbeschreiblich. Leah erinnerte sich an eine Reportage über eine Ölpest, mit Bildern von Vögeln, die in zähen, klebrigen Massen erstickten, Bilder eines qualvollen, erbärmlichen Todes. Dieser Wahnsinn hier unterschied sich in nichts davon.
Ihre Augen suchten das erste Schlauchboot, das vielleicht zwanzig Meter entfernt war, an der Stelle, an der die Winde das Netz Stück für Stück nach oben zog. David und Joe verrichteten die gleiche Arbeit, und Leah sah, dass sich nicht nur kleine Fische im Netz verfangen hatten, sondern auch ein verwester Körper, der aussah wie ein Delfin. Leah erkannte, wie viel Anstrengung es David kostete, das tote Tier aus dem Netz zu befreien. Ihr Blick wanderte zurück zu den beiden Männern, die sich daran machten, einen weiteren Vogel loszuschneiden. Wieder flog ein Stück des Kadavers ins Wasser.
Das Meer hatte seinen Frieden eingebüßt, das Gurgeln und Klatschen der Wellen gegen das Schlauchboot erschien Leah plötzlich wie dumpfes Gelächter, wie Spott über die Unbedarftheit, mit der sie das Ganze begonnen hatte. Was immer sie hier erwartet hatte, es war anders. Die Realität hatte sie eingeholt.
Nachdem Sam noch ein Dutzend weiterer Tiere vom Netz gelöst hatte, wandte er sich ihr zu und erkundigte sich, ob sie nicht lieber zurück an Bord wolle. Leah schaute in seine Augen. Sie konnte darin weder Geringschätzung noch die kleinste Spur von Brutalität entdecken. Nein, die Brutalität lag nicht im Vorgehen der Männer hier, sondern bei denen, die diese Netze aufgegeben hatten.
»Geht schon«, erwiderte Leah. Sie packte das Messer, ergriff einen der toten Eissturmvögel und setzte die Klinge an. Fast mühelos durchdrang sie den geschundenen Körper, trennte einen Flügel vom verquollenen Rumpf ab, dann den zweiten, warf die armseligen Überreste hinter sich ins Wasser. Ab sofort würde sie ihr Gehirn da raushalten, komplett abschalten, würde versuchen, einfach nur weiterzuarbeiten, mechanische Bewegung an mechanische Bewegung zu setzen, alles tun, was zu schnellen Ergebnissen führte. Sie konnte nur nicht verhindern, dass ihr dabei die Tränen kamen.
Es war still geworden in den Schlauchbooten. Der unerträgliche Geruch der schleimig aufgedunsenen Kadaver zwang sie, nur noch durch den Mund zu atmen. Als sie eine verendete Robbe ergreifen wollte, fuhr ihre Hand durch das faulig zerfledderte Gewebe, als wäre es Pudding, und Leah musste sich übergeben. Danach griff sie wieder beschämt zum Messer und hoffte, dass McGregor es nicht mitbekommen hatte.
Alle fünf befreiten sie das Netz von unzähligen Leichen, und erst zwei lange Stunden später, in denen sie kein einziges lebendes Tier hatten bergen können, horchte Leah auf. »Was war das?«
Auch Masao und Sam hielten inne. Ein leises Fiepen war zu vernehmen – halb Klagelied, halb Todesgesang. Keine dreißig Meter entfernt schien einer der Vögel wieder zum Leben erwacht, mobilisierte in seinem ungleichen Kampf gegen das Sterben die letzten Kraftreserven. Er war deutlich größer als die anderen, doch genau konnte man es nicht sehen, da sich ein Teil seines Gefieders unter der Oberfläche befand. Hastig zogen sie das Netz mit dem Tier, bei dem es sich um einen Albatros handelte, näher zu sich heran. Doch die Hoffnung, endlich helfen zu können, schwand wieder, als er auf Höhe des Schlauchbootes angekommen war und das Ausmaß seiner Verletzungen sichtbar wurde. Die Flügel waren gebrochen.
»Scheiße«, flüsterte Masao. Leah sah in die verzweifelten Augen des Vogels. Sie waren verkrustet und trübe, so als hätte der kalte Wind eine Eisschicht über sie gelegt. Erneut drang ein leises Fiepen aus seinem Schnabel. Dann sank der Kopf des Tieres ins Wasser. Leah dachte schon, er sei tot, doch der Albatros war nicht gewillt aufzugeben, reckte den Hals erneut in die Höhe, blies Wasser und eine trübe, eitrige Flüssigkeit aus dem Schnabel.
»Er leidet nur noch.« Sam sprach aus, was Leah befürchtet hatte.
Sam und Masao sahen sich an, und Leah spürte, dass die beiden Männer ihren Blick mieden. Sam nickte.
Und Masao stach
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