Lied der Wale
zu.
»NEIN!«, schrie Leah und übertönte damit den letzten Aufschrei des Vogels. Sein Kopf sackte zusammen, und das frische Blut hüllte sein schmutzigweißes Gefieder in einen roten Mantel ein. Leah schluchzte auf. Der Vogel vor ihr dümpelte nun wie alle anderen reglos in der See – wie ein Stück Abfall. »Beifang«, hallte es in Leahs Ohren wider, »all das, was wir nicht gebrauchen können.«
Bevor Masao sein Messer erneut ansetzen konnte, packte Leah den Albatros und versuchte ihn mit den Händen aus dem Netz zu befreien. In stillem Einvernehmen kam ihr Masao zu Hilfe, und mit gemeinsamer Anstrengung gelang es ihnen. Es kostete sie fast zehn Minuten. Einmal trafen sich ihre Augen, und Leah erkannte, dass nicht nur sie über das Ende des Vogels weinte. Vorsichtig legte sie seine toten Überreste auf die Wasseroberfläche und überließ sie den Wellen, die sie langsam vom Boot forttrieben.
»Danke«, sagte sie nur, dann zog sie das Netz wieder zu sich. Und um zu zeigen, dass sie das Mitgefühl Masaos zu schätzen wusste, setzte Leah als erste das Messer erneut an und trennte den nächsten Flügel vom Körper eines Vogels.
L eah saß auf der Heizung, starrte auf die weiße Wand wie auf einen imaginären Bildschirm, von dem die Bilder der letzten Stunden einfach nicht weichen wollten, während sie sich an einer Tasse heißem Tee zu wärmen versuchte.
Noch ehe sie ihn sah, spürte sie, dass sie nicht mehr allein war.
»Sie müssen das nicht machen.« Seine Stimme klang verhalten, nicht mehr so abweisend wie zuvor, ein bisschen zögerlich vielleicht. Er war von hinten an sie herangetreten.
»Ich weiß«, erwiderte sie und nahm einen weiteren Schluck, um die Steifheit aus ihren durchgefrorenen Gliedern herauszubekommen. Und um nichts weiter sagen zu müssen. Das Essen hatte sie nicht mal angerührt. Keinen Bissen hätte sie davon herunterbekommen, auch wenn Marek es ihr vermutlich nie verzeihen würde. Leah stand auf und wollte nach draußen gehen. Sie erstickte hier drin, sie brauchte frische Luft. Die Bilder da unten, das war zu viel gewesen. Nach drei Schritten vernahm sie erneut seine Stimme.
»Ms Cullin ...«
Sie war jetzt leiser, fast bittend und nicht ohne eine Spur von Schuldbewusstsein. Zumindest von Skrupel. Leah hielt inne, drehte sich aber nicht um.
»Tut mir leid wegen gestern.«
Kein Wort mehr. Dieser Satz war nicht der Auftakt für lange Erklärungen, sondern sprach für sich selbst. Etwas daran rührte Leah, die jedoch nicht so recht wusste, was sie damit anfangen sollte. Egal. Angesichts dessen, was sie erlebt hatte, erschien alles andere bedeutungslos. Über drei Stunden hatten sie bereits das Netz von Tieren befreit. Der Albatros blieb das einzige Tier, das noch gelebt hatte. Alle anderen waren tot. Zum Schluss hatte sie sich eingeredet, dass es ihr kaum mehr etwas ausmachte, mit dem Messer zu hantieren. Immer wenn sie daran dachte, welche Tätigkeit sie hier eigentlich verrichtete, rief sie sich ins Gedächtnis,dass jede Stunde, die sie eher fertig wurden, eine Stunde weniger war, in der das Netz noch eine Falle darstellte.
Leah räusperte sich. »Schon o. k. War auch meine Schuld.«
Nach einer kurzen Pause, in der offenbar beide das Gleiche dachten, meldete sich McGregor wieder zu Wort: »Sie sollten jetzt an Bord bleiben.«
Leah zögerte einen Augenblick, dann drehte sie sich um und schaute ihm in die Augen. Was sie dort sah, brachte sie aus dem Konzept. Sie hatte nach wie vor einen eher distanzierten, skeptischen Blick erwartet, doch diesmal strahlte er eine Wärme aus, mit der sie nicht gerechnet hatte. So wie damals, als sie in der Bar gesessen hatten. Sie erinnerte sich auch an die weichen Knie, die der Glanz in seinen Augen bei ihr hervorgerufen hatte. Jetzt war sie weit von diesem Gefühl entfernt. Das Netz da unten ließ sie nicht los.
»Nein, ich mache weiter. Brauch nur eine kleine Pause.«
David nickte. Er spürte offenbar, dass ein Widerspruch zwecklos gewesen wäre. »In Ordnung, dann werden wir drei Boote besetzen. In einer halben Stunde?«
Diesmal erhob Leah keinerlei Einspruch. Die Zeit würde reichen, um sich eine heiße Dusche zu genehmigen. Mehr brauchte sie nicht.
D ie anderen waren schon wieder bei der Arbeit, als Leah mit Steve zu ihnen stieß.
Die beiden sollten sich jetzt um jene Tiere kümmern, die an der Wasseroberfläche in den Maschen hingen, während Sam und Masao David und Joe zur Hand gingen. Obwohl das Netz nicht tiefer als fünfzig Meter war,
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