Lied der Wale
hat ein Treibnetz geortet, nicht weit von hier. Wir werden es rausholen«, erklärte Masao.
Der Gedanke, gleich Zeuge einer Konfrontation mit einem Fischereischiff zu werden, freute die Journalistin in ihr, auch wenn die Vorstellung einer handgreiflichen Auseinandersetzung mit ungewissem Ausgang etwas Beunruhigendes hatte.
»Und wo ist das Fangboot?«
»Es gibt keinen Trawler. Das Netz ist herrenlos.«
Leah benötigte eine Sekunde, bis sie begriff, was Masao meinte: eine dieser losgerissenen, herumgeisternden Todeswände, die jahrelang im Meer trieben und in denen sich angeblich Tausende von Tieren verfingen. Beifang. Abfall. Es überraschte sie, dass das Wort wie Gift auf sie wirkte. Woher diese plötzliche Anteilnahme?
»Ich komm mit!« Noch bevor sie es sich richtig überlegt hatte, sprudelten die Worte schon aus ihrem Mund.
»Vergiss es, Leah, ist zu gefährlich.«
»Stimmt, das Netz könnte mich anspringen.«
»Nein, das nicht.« Steve grinste. »Aber du kannst dich in den Dingern verfangen. Und du bist nicht besonders erfahren mit Schlauchbooten.«
»Und deshalb wollt ihr nicht, dass ich darüber berichte?«
»Klar wollen wir.«
»Dann muss ich es sehen. Ich pack das schon.«
Masao schien der Gedanke zu gefallen. »Wir haben vielleicht einen Anzug, der ihr passen würde.«
»Das Risiko ist zu groß. Es ist unverantwortlich«, widersprach Steve.
Leah seufzte. Sie war es gewohnt, und sie hasste es. XY-Chromosomenträger hatten nun mal die Angewohnheit, über Frauen zu sprechen, als wären sie nicht anwesend.
»Erde an Steve, Erde an Steve: Der Typ, mit dem du sprichst, ist Masao, nicht ich.«
Verwirrt wandte sich Steve wieder ihr zu.
»Ich habe eine gute Versicherung abgeschlossen, ihr erleidet also keinen Schaden.«
McGregor tauchte hinter Steve auf und kam die Treppe herunter.
»Warum nicht?«, hörte sie ihn sagen. »Wir können jede Hand gebrauchen. Sie muss wissen, was sie tut.«
Na hoppla, was war denn in den gefahren, wollte er ihr eine letzte Lektion erteilen? Erhoffte er sich, sie mit ihrem eigenen Enthusiasmus strafen zu können? Da konnte er lange warten, so leicht würde sie es ihm nicht machen. Egal, wenigstens war er ihr nicht in den Rücken gefallen, das hatte etwas Positives und half ihr, sich nicht wie ein Paria zu fühlen. Leah bedankte sich mit einem Kopfnicken, hakte sich bei Masao unter und zog ihn mit sich. Masao konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, doch der Anflug von Heiterkeit währte nur kurz. Er führte sie ein Stockwerk tiefer in den Geräte- und Trockenraum, in dem sich auch die Tauchausrüstungen befanden. Mit einem schnellen Blick musterte er Leah, dann wanderten seine Finger entlang der Neoprenanzüge, die wie im Kaufhaus an der Stange hingen,nach Größen geordnet. Er zog einen hervor, hängte ihn ab und reichte ihn Leah. »Beeil dich. Da sind die Schwimmwesten, such dir eine aus.«
Als Leah zurück an Deck stieg, hatten sich Joe und David bereits mit einem der Schlauchboote abgeseilt. Masao und Sam standen an der Reling, und wie ihren Blicken zu entnehmen war, sah sie nicht übel aus. Der Kautschuk schmiegte sich an ihren Körper wie eine zweite Haut. Sam kletterte ins Boot, Masao betätigte den Kran, nachdem Govind ihnen geholfen hatte, den Zodiac sicher am Haken zu arretieren. Leah beobachtete, wie er angehoben wurde, über die Reling schwebte und langsam in Richtung Wasser sank.
»O. k., jetzt wir«, sagte Masao, und Leah folgte ihm ohne Zögern über die Reling, obwohl sich bei dem Gedanken, die Jakobsleiter hinabzuklettern, alles in ihr zusammenzog. Doch sie wusste, McGregor war da unten und beobachtete sie in der sicheren Erwartung, dass sie sich mächtig blamierte. Die Schadenfreude würde sie ihm nicht gönnen. Egal wie strapaziert ihre Nerven waren, agieren würde sie wie ein Profi. Also beschäftigte sie sich nicht weiter damit und befolgte Regel Nummer eins: Schau niemals nach unten.
K aum hatte Leah das Schlauchboot betreten, steuerte Sam auf die offene See hinaus, immer dem zweiten Zodiac mit David und Joe folgend. Es gab kaum Wellen, trotzdem stoben sie über die wenigen, als wären diese als Sprungschanzen gedacht, um das Boot in die Luft zu katapultieren. Wenn es danach wieder im Wasser landete, hatte Leah jedes Mal das Gefühl, auf hartem Beton zu landen. Instinktiv krallten sich ihre Hände um die Griffe, die sich entlang der Luftkammern aneinanderreihten.
Das Netz war nicht zu übersehen. Doch neben den kleinenSchwimmkörpern, die
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