Lied der Wale
Steve aber keineswegs aufgetaucht war. Sie spähte in die Tiefe, doch die Schatten gaben keine Auskunft. Dann jedoch bewegte sich etwas, und Steve schoss aus dem Wasser.
»Ein Messer, schnell! Und alarmier David, da unten ist ein Wal, und er lebt noch.«
Leah griff nach dem Messer auf dem Bootsboden, zog es aus dem Schaft und reichte es Steve, der daraufhin wieder abtauchte. Leah griff zum Walkie-Talkie und gab David Bescheid, der sofort seine Arbeit abbrach, den Außenborder startete und auf sie zuraste.
Steve tauchte sofort wieder auf. »Ich brauch deine Hilfe! Komm mit. Beeil dich.«
K omm mit war gut. Ein Wal – das war eindeutig ein respekteinflößendes Wort. Insbesondere, da sie gleich einem begegnen sollte. Sie war auf vieles vorbereitet, aber darauf nicht ... vor allem nicht unter Wasser. Doch Steve hatte nicht den Eindruck erweckt, dass sie eine Alternative hätte. Dann konnte es auch nicht gefährlich sein. Und er brauchte ihre Hilfe! Rasch schlüpfte sie in die Flossen, zog die Taucherbrille durch das Meerwasser, setzte sie auf und glitt ins kalte Nass. Durch die Sonne wurde dasMeer vom Licht durchflutet, bis es in der Tiefe immer dunkler zu werden schien. Und von genau dort schimmerte etwas zu ihr hinauf. Gott sei Dank war es nicht viel größer als Steve, der sich dort unten am Netz zu schaffen machte. Dann erschrak sie, denn der Wal war schwarz mit einem weißen Bauch. Ein Killerwal, schoss es ihr durch den Kopf, ein Orca. Einer, bei dem vielleicht auch Menschen auf der Menükarte standen.
Bloß nicht den Kopf verlieren, Ms Cullin. Am liebsten wäre sie sofort wieder aufgetaucht. Doch wenn sich Steve so unbekümmert in seine Nähe begab, dann konnte doch wirklich keine Gefahr bestehen. Das hoffte sie zumindest und näherte sich vorsichtig. Mit seiner schwarz-weiß gefleckten Haut sah er einem Schwertwal tatsächlich sehr ähnlich, doch dann redete sie sich ein, dass er mit einer Länge von kaum mehr als zwei Metern dafür wohl zu klein war. Mit heftigen Bewegungen schnitt sich Steve durch das Netz, und je näher Leah herankam, desto deutlicher sah sie die Verletzungen des Tieres. Beide Flossen und die Fluke waren von tiefen Schnittwunden gezeichnet. Leahs Magen krampfte sich zusammen. Die Freude über die Rettung des Albatros schrumpfte in Anbetracht dieser leidenden Kreatur zur Bedeutungslosigkeit. Dann sah sie die Augen des Tieres. Trotz des Schmerzes und des Leids, das der kleine Wal erleben musste, schienen sie voller Mitgefühl, voller Wärme zu ihr hinüberzublicken. Ihre Angst verschwand auf der Stelle, dafür kamen ihr die Tränen.
Sie tauchte zu Steve, der die letzten Nylonfäden durchtrennte, die den Wal noch gefangen hielten. Ein paar Sekunden später hatte er es geschafft, der Wal war frei. Doch statt dass er nun gemächlich davonschwamm, machte er keinerlei Anstalten, sich zu bewegen. Vielmehr sank er in die Tiefe. Leah griff sofort nach ihm, umfasste seinen Bauch. Als sie nach oben blickte, konnte sie erkennen, wie David ins Wasser sprang und zu ihnen tauchte.Keine Sekunde zu früh, denn Steve schien der Sauerstoff auszugehen, er musste hinauf, und Leah ging es auch nicht viel besser. Gemeinsam mit David gelang es ihr, den Wal am Absinken zu hindern. Als Steve erneut hinzukam, hatten sie bereits ein paar Meter an Höhe gewonnen, doch jetzt war es Leah, die es keine Sekunde länger aushielt und auftauchen musste.
Schnell presste sie die Luft in ihre Lungen und wollte gerade einen neuen Tauchgang starten, als die beiden Männer mit dem Wal die Wasseroberfläche erreichten, wo dieser eine Blaswolke aufsteigen ließ. Gott sei Dank, geschafft. Nach all den toten Tieren war dies das schönste Geschenk, das der Himmel Leah machen konnte. Sie waren nicht zu spät gekommen, nicht für diesen kleinen Wal, der nun neben ihr im Wasser lag und mit seinem Blick ihr Herz berührte. Die drei umfassten ihren Schützling, so gut es eben ging, und versuchten ihn über Wasser zu halten. Joe, der sich in Davids Schlauchboot befand, erfasste sofort die Lage und reichte David die Schwimmwesten. Nachdem sie zwei miteinander verbunden hatten, gelang es ihnen, diese so unter den Wal zu ziehen, dass er nicht mehr abzusinken drohte. Doch seine Flossen bewegten sich immer noch nicht.
»Joe, wir müssen ihn an Bord nehmen.«
Als ob Joe das bereits erwartet hatte, befestigte er die linke der Schwimmwesten steuerbord am Schlauchboot, während David die zweite Weste am anderen Boot festband. Der Wal lag nun
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