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Lieder von Sternen und Schatten

Lieder von Sternen und Schatten

Titel: Lieder von Sternen und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R. R. Martin
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spiele ich für dich. Ist aber ein trauriges Lied. Es gibt keine Düsenmaschinen mehr. Weißt du das? Es ist wahr. Du solltest dir mal überlegen, warum.«
    Er lächelte wieder und begann zu spielen. Keith hatte immer das letzte Wort, wenn es ihm darauf ankam. Gegen seine Gitarre kam keiner auf.
    Knapp über eine Meile vom Haus entfernt, hinter den Feldern im Westen, floß ein kleiner Bach zwischen den Hügeln und Bäumen. Im Sommer und Herbst war er meist trocken, aber es war trotzdem schön dort. Nachts dunkel und still, abseits von Lärm und Leuten. Wenn das Wetter gut war, schleppte Keith seinen Schlafsack dorthin und schlief unter einem Baum. Allein.
    Da machte er auch seine Zeitausflüge.
    Ich fand ihn da in der Nacht, als das Singen vorüber war und alle anderen schlafen gegangen waren. Er lehnte an seinem Lieblingsbaum, hieb nach den Mücken und starrte in das Bachbett.
    Ich setzte mich zu ihm.
    »Hi, Gary«, meinte er, ohne mich anzusehen.
    »Schlechte Zeiten, Keith?« sagte ich.
    »Schlechte Zeiten, Gary«, nickte er, starrte auf den Boden und drehte ein abgefallenes Blatt an seinem Stengel hin und her. Ich beobachtete sein Gesicht. Sein Mund war gespannt und ausdruckslos, seine Augen wirkten verschattet.
    Ich hatte Keith lange Zeit gekannt. Ich wußte genug, um nichts zu sagen. Ich saß nur stumm neben ihm und machte es mir in einem frischen Laubhaufen bequem. Und nach einer Weile begann er zu reden, wie er es immer tat.
    »Da sollte Wasser sein«, sagte er und wies mit dem Kopf auf das Bachbett. »Als ich klein war, wohnte ich an einem Fluß. Gleich über der Straße. Ach, es war ein schmutziger kleiner Fluß in einer schmutzigen kleinen Stadt, und das Wasser war völlig verseucht. Aber es war doch Wasser. Nachts ging ich manchmal in den Park auf der anderen Straßenseite, setzte mich auf eine Bank und schaute hinein. Stundenlang oft. Meine Mutter war böse auf mich.« Er lachte leise. »Es war hübsch, weißt du. Selbst die Ölflecken. Und mir half das beim Nachdenken. Das fehlt mir, weißt du. Das Wasser. Ich denke besser nach, wenn ich in Wasser starre. Seltsam, nicht?«
    »Gar nicht so seltsam.«
    Er hatte mich immer noch nicht angesehen. Er starrte noch immer in das trockene Bachbett, wo jetzt nur Dunkelheit floß. Und seine Hand zerzupfte das Blatt. Langsam und methodisch.»Alles fort jetzt«, sagte er nach einer Weile. »Es war zu nah bei New York. Das Wasser leuchtet jetzt wahrscheinlich, wenn überhaupt noch Wasser da ist. Hübscher denn je, aber ich kann nicht zurück. Vieles ist so. Jedesmal, wenn ich mich an etwas erinnere, muß ich mir ins Gedächtnis rufen, daß es nicht mehr da ist. Und ich kann nicht zurück, niemals. Zu nichts. Außer ... außer damit ...«
     
    Er wies mit dem Kinn auf den Boden zwischen uns. Dann hatte er das Blatt zerrupft und griff nach dem nächsten.
    Ich streckte die Hand hinunter. Die Zigarrenkiste stand, wo ich sie vermutet hatte. Ich hielt sie mit beiden Händen und klappte den Deckel mit den Daumen auf. Im Inneren lag die Spritze neben vielleicht einem Dutzend kleiner Beutelchen mit Pulver. Das Pulver sah im Sternenlicht weiß aus. Aber bei Tag war es von hellem, funkelndem Blau.
    Ich starrte hinein und seufzte.
    »Nicht mehr viel da«, sagte ich.
    Keith nickte, ohne hinzusehen.
    »In einem Monat werde ich wohl nichts mehr haben.« Seine Stimme klang sehr müde. »Dann habe ich nur noch meine Lieder und meine Erinnerungen.«
    »Das ist alles, was du jetzt hast«, sagte ich. Ich klappte die Kiste zu und gab sie ihm zurück. »Chronin ist keine Zeitmaschine, Keith. Nur ein Halluzinogen, das zufällig auf die Erinnerung einwirkt.«
    Er lachte.
    »Darüber ist damals schon gestritten worden. Die Fachleute sagten alle, Chronin sei eine Gedächtnisdroge. Aber genommen haben sie es nie. Du auch nicht, Gary. Aber ich kenne mich aus. Ich habe Zeitausflüge gemacht. Es sind keine Erinnerungen. Es ist mehr. Man geht zurück, Gary, man tut es wirklich. Man durchlebt es noch einmal, was es auch war. Man kann nichts ändern, aber man weiß trotzdem, daß es wirklich ist.«
    Er warf weg, was von seinem Blatt übriggeblieben war, und schlang die Arme um seine Knie. Dann legte er den Kopf darauf und sah mich an.
    »Du solltest mal einen Zeitausflug machen, Gary. Wirklich. Wenn du die Dosis richtig triffst, kannst du dir dein Gestern aussuchen. Es ist wirklich keine schlechte Sache.«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Würdest du mich lassen, wenn ich es versuchen

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