Liegen lernen
führen, richtige, normale Leute sind, mit einer Geschichte und mit Bedürfnissen und Geheimnissen, daß sich ihre Existenz nicht in den Worten »Vater« und »Mutter« erschöpft. Das heißt dann wohl »Erwachsenwerden«. Und dann lernt man damit leben, daß sie Geheimnisse vor dem Sohn, der Tochter haben, aber noch immer erscheinen sie wie eine Einheit. Wenn das dann auch nicht mehr stimmt, was ist das dann? Was kommt nach »Erwachsenwerden«?
Ich hatte mal gedacht, ich könnte meine Eltern fragen, wie Ehe geht. Tinas Vater war allein, aber meine Eltern hatten es doch hingekriegt, dachte ich. Nicht, daß sie eine beneidenswerte Ehe geführt hätten, aber etwas mußte da doch sein, von dem ich nichts wußte, zu dem ich keinen Zugang hatte. Aber meine Eltern nach irgend etwas zu fragen, war ja immer sinnlos gewesen.
Ein paar Wochen später entdeckte ich den Schwangerschaftstest. Es war ein Freitag. Ich hatte mir freigenommen, um zu Hause zu Bad und duschte und rasierte mich dann. Als ich die Rasiercreme und den Rasierer aus dem Spiegelschrank über dem Waschbecken nahm, fiel mir die Packung noch nicht auf. Ich rasierte mich und wusch mir die Schaumreste ab. Dann öffnete ich den Schrank wieder und nahm den After Shave Balsam heraus, kippte etwas davon in meine linke Handfläche, und als ich die Flasche wieder zurückstellte, sah ich ihn. Ich verteilte den Balsam auch in der rechten Handfläche und rieb mein Gesicht ein. Dann wusch ich mir die Hände und nahm die Packung aus dem Schrank. Ich schaute hinein. Ein Streifen fehlte. Sie nahm die Pille. Wieso brauchte sie einen Schwangerschaftstest? Die Palette mit den kleinen, blauen Antibabypillen stand in ihrem Zahnputzbecher. Ich sah hinten drauf. Sie hatte alle genommen, auch die für Freitag. Ich stellte die Packung mit dem Test zurück und machte den Schrank zu.
Den Tag über arbeitete ich. Ich kam gut voran. Zwischendurch machte ich mir ein paar Nudeln mit Tomatensauce und trank dazu ein Glas Wein. Davon wurde ich schläfrig und legte mich aufs Sofa und schlief ein. Ich wachte auf, als Tina nach Hause kam. Ich sagte, ich sei eingeschlafen und müsse nun noch etwas arbeiten, und verschwand in mein Arbeitszimmer und machte weiter. Als ich mit der Arbeit fertig war, war es schon nach zehn und Tina lag schon im Bett und löste ein Kreuzworträtsel. Ich blieb in meinem Arbeitszimmer sitzen und dachte an den Schwangerschaftstest. Dann nahm ich mir ein Buch und las etwas, bis ich einigermaßen sicher sein konnte, daß sie schlief. Gegen halb zwölf ging ich ins Bad und sah im Schrank nach. Der Test war immer noch da. Ich ging ins Schlafzimmer, zog mich aus und legte mich neben sie. Um kurz nach zwei schlief ich ein.
Am nächsten Morgen stand ich mit ihr auf, und wir frühstückten gemeinsam. Es war Samstag. Wir gingen auf den Wochenmarkt und kauften Obst und Gemüse und frisches Fleisch. Das Wetter war gut, der Sommer ging zu Ende, es war September. Heute aber war es sehr warm. Am Mittag aßen wir auf dem Balkon. Am Nachmittag fuhr Tina für zwei Stunden ins Büro, und ich arbeitete auch ein wenig. Abends aßen wir Käse und Weißbrot und tranken Rotwein dazu. Bevor ich ins Bett ging, sah ich wieder im Schrank nach. Der Test war immer noch da.
Am Sonntag fuhren wir ins Grüne und gingen lange spazieren. Tina sprach wieder davon, wie es wäre zu heiraten, und ich nickte und stimmte ihr zu, aber es war ein Gespräch über etwas, das noch weit weg war. Am Abend liebten wir uns und schliefen gleich danach ein, weil wir müde waren vom Wandern. Ich hatte nicht mehr im Schrank nachgesehen.
Am Montag war Tina schon wieder im Büro, als ich aufwachte. Ich fuhr ins Institut, weil ich einen Termin bei Mutter hatte. Es ging um die Einstellung neuer studentischer Hilfskräfte. Er sagte, ich solle mich darum kümmern, er vertraue meinem Urteil. Den Rest des Tages verbrachte ich in der Institutsbibliothek. Auf dem Heimweg kaufte ich noch ein paar Sachen ein und fing an zu kochen, als ich nach Hause kam. Ich sah im Schrank nach. Der Test war weg. Sie hoffte wahrscheinlich, daß ich ihn nicht gesehen hatte.
Die ganze Zeit über hatte sie sich nichts anmerken lassen. Was hatte das zu bedeuten? Was beunruhigte mich mehr? Daß sie vielleicht schwanger war oder daß es ihr so leicht fiel, mir etwas zu verheimlichen? Nach etwas Nachdenken erschien mir letzteres als nicht so schlimm. Das konnte ich auch. Aber der Gedanke an ein Kind machte etwas mit mir, das mir nicht gefiel. »Es
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