Liegen lernen
schnürte ihm die Kehle zu«, hätte es wahrscheinlich in einem Buch geheißen. So ähnlich war es, aber das traf es nicht ganz. Ich konnte es nicht beschreiben, nicht in eine Formulierung kleiden. Aber es war sehr merkwürdig.
Dann suchte ich nach den Fotos. Nicht nach unseren, sondern nach denen, die sie mir noch nicht gezeigt hatte. Ich fand sie unter ihrer Seite des Bettes. Eine große schwarze Kiste. Sie hatte sich keine große Mühe gegeben, sie zu verstecken. Das konnte bedeuten, daß sie mir vertraute oder daß sie nichts zu verbergen hatte. Ich nahm die Kiste und trug sie hinunter in den Keller, in mein Musikzimmer. Ich legte Dylan auf. Das hatte ich schon sehr lange nicht mehr getan. Ich legte »Highway 61 revisited« ein und drückte auf die Taste für die Zufallsreihenfolge. Ich hörte »Like a Rolling Stone« und betrachtete die Kiste. Once upon a time, you dressed so fine, threw the bums a dime inyour prime, didn’t you?
Dann setzte ich mich in den Sessel, nahm die Kiste auf den Schoß und machte sie auf. Ich nahm einen Umschlag heraus und sah mir die Fotos an. Das waren alles Familienmitglieder. Ich erkannte ihren Vater. Ihren Bruder, der in Wien lebte. Dann viele Frauen, die wie Tanten aussahen. Ich steckte die Fotos wieder in den Umschlag. Ich nahm einen neuen heraus. Treffer. Ein ganzer Film von einem gutaussehenden, dunkelhaarigen jungen Mann. Er spülte Geschirr und trug dabei Plastikhandschuhe. Er saß auf einem Sofa und las, ohne Plastikhandschuhe. Der Titel des Buches war nicht zu erkennen. Er führte einen Hund an der Leine, einen Cockerspaniel. Er sah dem Hund beim Scheißen zu und lachte, wahrscheinlich weil Tina ausgerechnet diesen erhebenden Moment im Foto festhalten mußte. Dann sah man den jungen Mann beim Autofahren, beim Kartenspielen, vor einer Haustür und im Kaufhaus, in der Abteilung für Damenunterwäsche. Er hielt einen schwarzen Spitzen-BH hoch und grinste. Ich hörte gerade »Ballad of a thin Man«: You know something is happening, but you don’t know what it is. Do you, Mr. Jones?
Ich nahm den nächsten Umschlag hervor. Wieder der Dunkelhaarige. Ich wußte nicht viel über ihre Exfreunde. Das hier mußte Markus sein, mittlerweile Lehrer für Deutsch und Musik. Angeblich ein sehr guter Pianist. Er sah aus wie jemand, von dem man schöne Kinder bekommen konnte. Warum hatte es mit den beiden nicht geklappt?
Ich nahm den nächsten Umschlag. Wieder ein Mann, diesmal ein blonder. In ähnlich alltäglichen Posen und Situationen fotografiert. Das mußte Max sein. Max hatte Tina sehr weh getan. Wenn sie von ihm redete, brach ihr Gesicht wieder zusammen. Sie hatte aber noch nicht erzählt, was Max ihr angetan hatte. Max trug eine schwarze Hornbrille, und man sah ihm an, daß er sich selbst ziemlich gut fand. Er lachte auf keinem einzigen Foto. Einmal verzog er den rechten Mundwinkel zu einem Grinsen, aber es sah nicht freundlich aus. Es sah aus, als wollte er sagen: Ich habe euch alle im Griff, ihr Arschlöcher. Next time you see me coming, you’d better run!
Im nächsten Umschlag waren lauter Bilder von Tina. Wer immer die gemacht hatte, hatte sich bemüht, Tina in besonders unvorteilhaften Momenten zu fotografieren. Einmal saß sie auf dem Klo, und ihrem Gesicht sah man den Schreck an, ausgerechnet jetzt fotografiert zu werden. Die Kacheln hinter ihr reflektierten den Blitz. Dann sah man Tina, wie sie gerade aus der Dusche kam. Wieder sah man den Schrecken in ihrem Gesicht. Was war das für ein Typ? Eine Art Peeping Tom für Arme? Ein Westentaschen-Norman-Bates? Auf dem nächsten Bild sah man Tina nackt im Bett. Jedenfalls mußte man vermuten, daß sie nackt war. Sie hatte noch versucht, sich mit der Bettdecke zu verhüllen, aber an der Seite sah eine Brust hervor. Tina machte kein fröhliches Gesicht. Sie tat mir leid. Ich wurde wütend auf den Kerl, der die Fotos gemacht hatte. Einmal sah man sie in der Badewanne, mit dem Gesicht unter Wasser, aber die Augen geöffnet, starr nach oben blickend. Sie sah aus, als sei sie tot. Der Typ mußte ein Perverser sein. Ich konnte mir das nicht ansehen. Ich steckte die Fotos in den Umschlag und legte den Umschlag in die Kiste. Ich hatte die Schnauze voll. Ich nahm den Kopfhörer ab, während Dylan sang, daß er in der Küche sei mit der Tombstone-Traurigkeit. Tombstone war eine Stadt, konnte aber auch Grabstein heißen.
Ich fuhr nach oben und verstaute die Kiste wieder unter dem Bett.
Tina kam früher als sonst. Wir aßen
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