Liegen lernen
Ich sprach mit dem Hausmeister, und der sagte, neben dem Heizungskeller stehe noch ein Raum frei, den könne ich mieten, für hundert Mark im Monat. Ich sah mir den Raum an und schlug ein. Er maß etwa drei mal vier Meter. Ich ließ die nackten Betonwände verputzen und streichen und legte Teppichboden hinein. Ich stellte die CD-Schränke hinein und füllte sie auf. Dann ließ ich mir ein stabiles Regal für die Vinyl-Platten bauen.
Eine Zeitlang fuhr ich immer mit dem Fahrstuhl nach unten, um mir ein paar CDs nach oben zu holen. Oft konnte ich mich aber nicht entscheiden, wonach mir gerade der Sinn stand. Es konnte passieren, daß ich eine halbe Stunde unten blieb und mir die CDs und Platten ansah. Eines Tages zog ich los und kaufte mir eine neue Anlage und stellte sie in meinem Musikzimmer auf. Ich fing an, dort unten Musik zu hören. Tina schenkte mir zu Weihnachten einen ziemlich teuren schnurlosen Kopfhörer. Ich konnte jetzt beim Musikhören herumgehen. Dann kaufte ich mir einen großen Ohrensessel und stellte ihn dort unten hinein. Jetzt konnte ich im Sessel sitzen und mir in aller Ruhe die Booklets und die Cover ansehen. Der Raum hatte eine feuerfeste Stahltür und keine Fenster. Ich wurde durch nichts abgelenkt, ich hatte meine Ruhe. Ich konnte tanzen, wenn ich wollte. Ich konnte lauthals mitsingen. Das tat gut. Ich konnte schreien, wenn mir danach war. Vor allem aber war ich: allein. Ich mußte nicht erklären, warum ich etwas gut fand und wieso nicht. Ich konnte einfach dasitzen und zuhören und mußte mir keine Gedanken darüber machen, ob es Mücke paßte, was ich hörte, oder Beck oder sonstwem.
Tina kam nicht hier herunter. Sie sagte, das würde sie nur im Notfall tun. Sie finde es gut, daß ich da unten meinen ganz eigenen Bereich hätte. Wenn jemand für mich anrief, sagte sie, ich sei nicht da. Oben hatten wir nur ein paar Klassik-CDs von Tina.
An dem Tag, als meine Eltern mir sagten, sie wollten sich scheiden lassen, kam Tina am frühen Abend aus dem Büro und strahlte über das ganze Gesicht. Sie warf ihren Schlüssel auf das Sideboard in der Diele und rief: »Stell dir vor, ich habe einen Igel gerettet!« Sie kam ins Wohnzimmer, kniete sich neben mich auf das Sofa, umarmte mich und knabberte an meinem Ohr herum.
»Er saß mitten auf der Straße«, sagte sie, »und hatte sich eingeigelt, direkt in einer Kurve. Ich bin über ihn drüber gefahren, aber ohne ihn zu berühren, ich konnte gerade noch so ausweichen, daß ich einfach über ihn weggerollt bin, ohne ihn zu berühren. Ich denke mal, das hatten schon einige Autos gemacht, und er hatte eine ziemliche Angst. Ich habe angehalten, bin zu ihm hin, habe meine Jacke ausgezogen, ihn damit hochgehoben, damit ich mich nicht steche, und dann habe ich ihn auf eine Wiese gesetzt. Es war oben am Hauptfriedhof. Ich habe als Kind zuletzt einen Igel gesehen.« Sie war restlos begeistert. Es machte Spaß, sie so zu sehen. Ihr entging bei aller Freude aber nicht, daß mit mir etwas nicht stimmte. »Was ist los mit dir?« Ich sagte es ihr. Schlagartig brach ihr Gesicht zusammen. »Das ist ja schrecklich«, sagte sie und umarmte mich und küßte mich. Solche Dinge wurden immer ganz schnell zu ihrer ganz eigenen Angelegenheit. Wenn sie mit dem Finanzamt zu tun hatte, mußte sie hart wie Kruppstahl sein, denn sie hatte einen guten Ruf und viele Klienten, aber Igel auf der Straße und Eltern, die sich nach fast vierzig Jahren Ehe doch noch scheiden ließen, brachten sie aus der Fassung.
Sie sagte, das müsse sehr schwer für mich sein. Ich sagte, es sei nicht schwer. Es war merkwürdig, aber nicht schwer.
Abends sahen wir ein wenig fern, einen »Tatort«. Nach dem »Tatort« gingen wir ins Bett und lasen ein wenig und dann liebten wir uns. Dann sagte ich, sie sollte mir noch mal von dem Igel erzählen. Sie sagte, sie habe ihn auch deshalb nicht mit bloßen Hände anfassen wollen, da man nie wissen könne, was für Ungeziefer zwischen den Stacheln hocken konnte. Dann schliefen wir ein, und ich träumte nichts.
16
Meine Mutter machte ernst und zog bei meinem Vater aus. Sie mietete eine kleine Wohnung in einem anderen Stadtteil, die er bezahlte. Sie nahm ein paar Möbel mit und ihre persönlichen Sachen, den Rest kaufte sie sich neu. Sie hatte etwas gespart, auf einem Konto, das auf ihren Namen lief. Mein Vater hatte davon nichts gewußt, und ich hatte es ihr nicht zugetraut. Irgendwann kriegt wohl jeder heraus, daß seine Eltern ein eigenes Leben
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