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Liegen lernen

Liegen lernen

Titel: Liegen lernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Goosen
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Mücke hatte gesagt, bei ihr könne man vielleicht mal die Zunge reinstecken. Sie hatte schon zwei Freunde gehabt. Ich hatte nicht gewußt, was Mücke mit »Zunge reinstecken« meinte, aber ich fragte nicht nach. Mücke stellte uns vor und sagte dann nichts mehr. Wir unterhielten uns, und dann fragte ich sie, ob sie mit mir gehen wolle. Sie sagte: »Klar!« und zuckte mit den Schultern. Dann nahm ich ihre Hand, und wir gingen ein bißchen auf dem Schulhof herum. Es war später Nachmittag. Sobald ich ihre Hand in meiner hatte, konnte ich nicht mehr mit ihr reden. Wir trafen uns am nächsten Tag noch mal und gingen Eis essen. Danach liefen wir Hand in Hand durch die Stadt. Einmal die Fußgängerzone rauf, dann wieder runter. Am nächsten Tag sagte sie mir, sie würde lieber wieder mit Wolfgang aus ihrer Klasse gehen. Ich sagte: »Okay!«, und das war es dann. Aber immerhin war ich jetzt mal mit einem Mädchen gegangen.
    Aber mit Britta war es nicht so einfach. Um mich herum war DDR, lauter Kommunisten. Wenn Onkel Bertram mich jetzt hätte sehen können. Wenn ich Brittas Hand nahm, war ich dann auch ein Kommunist? War sie denn einer? Sie fand die Mauer nicht so schlimm, also mußte sie Kommunistin sein. Aber das war mir egal. Meine Hände schwitzten. Ich konnte gar nicht mit Britta Hand in Hand gehen.
    Am Bahnhof Friedrichstraße standen alle anderen schon herum und warteten auf uns. Mücke grinste. Neben ihm stand die schöne Claudia. Ich fragte mich, ob die beiden Hand in Hand gegangen waren. Sogar Sudhoff grinste, als er uns kommen sah, und auch die Jacobs sah wieder etwas besser aus. Wir gingen hinein und stellten uns in die Schlange. Ich mußte pinkeln. Britta unterhielt sich mit der Jacobs. Ich mußte sehr dringend pinkeln. Niemand schien sich dafür zu interessieren. Mücke redete wieder auf die schöne Claudia ein. Ich hielt es nicht mehr aus. Ich ging wieder raus, ging nach links und stellte mich hinter einen Busch. Das Pinkeln tat fast weh, so groß war der Druck. Ich machte meine Hose zu, und dann sah ich ihn: Er sah aus wie der aus dem Zug, aber das konnte er nicht sein. Und er richtete sein Maschinengewehr auf mich.
    »Was machen Sie denn da?«
    Mir ging durch den Kopf: Ich weiß nicht, wie das bei euch heißt, aber wir nennen das pinkeln. »Ich habe gepinkelt«, sagte ich und bemühte mich, nicht zu lallen.
    »Ach, Sie kommen aus dem Westen?«
    Und ich kann da auch wieder hin, dachte ich, aber ich sagte nur: »Jawohl!«
    »Sie haben sozialistischen Mutterboden entweiht!«
    Ich fragte mich, ob sein Gewehr entsichert war.
    »Das können Sie vielleicht im Westen machen, aber hier nicht.«
    Was konnte ich vielleicht im Westen machen? Sozialistischen Mutterboden entweihen? Hatten wir da welchen? Kam ich jetzt vor Gericht? Oder sollte ich standrechtlich erschossen werden? Vielleicht ließ er es wie einen Unfall aussehen (»Er ist mir in die Kugel gelaufen, Genösse Generalsekretär!«), oder ich wurde auf der Flucht erschossen.
    »Machen Sie, daß Sie hier wegkommen!« sagte er angewidert und zeigte mit dem Lauf seiner Kalaschnikow, wo es lang ging.
    Als ich zurückkam, war die Schlange nur ein paar Meter weiter gekommen. Britta redete mit anderen Mädchen. Ich war wieder nüchtern. Ich stellte mich neben Mücke.
    »Na, alte Sau?« sagte er. »Hast du für mich einen mit reingesteckt?«
    Abends gab es eine Party. Sudhoff gestand uns ein paar Bier mehr zu, und der lange Schäfer ordnete seine Kassetten, um den Discjockey zu machen. Britta hatte nicht mehr mit mir geredet, seit wir wieder im Westen waren. Auch auf der Party beachtete sie mich nicht.
    Die Mädchen hatten Räucherstäbchen aufgestellt und Tee gekocht. Die meisten von ihnen hielten nichts von Alkohol, erlaubten sich allenfalls mal einen Schluck Rotwein. Von weitem sah ich Britta, wie sie Bier trank. Es war etwas komisch, daß sie mich nicht beachtete, aber vielleicht erwartete ich einfach zu viel.
    Anfangs war alles recht steif, es hockten größere Grüppchen zusammen und das einzige Thema war Schule. Dann wurde es draußen dunkler, und bald wurde der Raum nur noch von Kerzen erhellt. Mir wurde ein bißchen schlecht von den Räucherstäbchen. Die Grüppchen wurden kleiner. Britta saß mit Sudhoff und der Jacobs zusammen. Mücke machte sich wieder an die schöne Claudia heran. Ich stand beim langen Schäfer, der mit zwei Kassettengeräten arbeitete: auf einem spulte er vor und zurück und hörte mit einem Kopfhörer hinein, auf dem anderen spielte er

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