Liegen lernen
Vater den Baum nach oben und hängte die üblichen Kugeln und das Lametta dran. Dann ging er in den Keller und brachte sich mit alten Schlagern in Weihnachtsstimmung. Bei uns wurde darauf verzichtet, das Wohnzimmer zu verschließen, damit der kleine Helmut sich länger auf den reich geschmückten Baum freuen konnte. Der Baum stand deutlich sichtbar herum. Nur die elektrischen Kerzen waren noch aus.
Ich sagte zu meiner Mutter, die in der Küche das Weihnachtsessen zubereitete, daß ich noch mal einen kleinen Spaziergang machen würde.
»Einen Spaziergang? Du? Jetzt?«
»Ja, sicher. Wieso nicht?«
»Du warst doch nie ein großer Spaziergänger. Früher mußten wir dich regelmäßig hinter uns herschleifen, wenn wir mal am Sonntag ein bißchen Spazierengehen wollten.«
»Und deshalb darf ich jetzt nicht?«
»Ach Junge«, seufzte sie, »rede doch nicht immer einen solchen Unsinn. Natürlich darfst du. Ich wundere mich nur.«
Ich ging die Treppe hinunter und in den Keller. Ich wollte tatsächlich Spazierengehen, aber zuvor wollte ich meinen Vater im Keller angucken. Als ich unten ankam, hörte ich keine Musik. Das machte mich stutzig. Ich mußte noch vorsichtiger sein, damit er mich nicht hörte. Ich lugte durch die Bretter und sah meinen Vater an der Wand entlanggehen. Dann zog er ein Album heraus, setzte sich auf einen Stuhl und blätterte es durch, allerdings ohne eine Platte herauszunehmen. Aufmerksam betrachtete er die Labels. Dann klappte er das Album zu, stellte es zurück, nahm ein anderes, setzte sich wieder und blätterte es ebenfalls durch. Als er beim fünften angekommen war, wurde es mir langweilig, und ich wollte gehen. Als ich mich umdrehte, machte ich ein Geräusch, ich weiß nicht genau wie, mein Fuß schabte über den Boden oder so, jedenfalls blickte mein Vater auf. Ich weiß nicht, ob er mich sah, dafür waren die Latten an der Tür dann vielleicht doch zu dicht, aber ich wagte nicht, mich noch einmal zu rühren. Einige Sekunden lang sah mein Vater Richtung Tür, dann nahm er ein neues Album aus dem Regal, und ich schlich, völlig geräuschlos diesmal, davon.
Ich lief eine halbe Stunde draußen herum und überlegte, wie ich es meinen Eltern sagen sollte. Ich bog auf einen alten Kinderspielplatz ein, setzte mich auf eine der beiden Mütterbänke und fragte mich, wieso es mir so ging, wie es mir ging.
Als ich wieder nach Hause kam, war das Essen schon fast fertig. Mein Vater saß im Wohnzimmer und betrachtete den geschmückten Baum. Er war zufrieden. Der Baum war nicht besonders groß, aber er stand auf einem kleinen Tisch, damit er größer aussah. Zwischen der Spitze und der Zimmerdecke war immer noch reichlich Platz. An den Zweigen hing etwas Lametta, und zwischendurch ein paar Kugeln, zur Hälfte rote, zur Hälfte silberne. Früher hatte es mal kleine Figuren aus Holz gegeben, fette Engelchen, die mit vollen Backen in kleine Trompeten bliesen. Die waren offenbar jedoch irgendwann abhanden gekommen. Niemand fragte danach. Erleuchtet wurde der Baum von einer Kette aus elektrischen Kerzen. Wenn eine nicht funktionierte, gaben alle den Geist auf.
Ich ging ins Wohnzimmer und sagte »Hallo«, und mein Vater sagte auch »Hallo«. Dann fragte er mich, ob es kalt draußen sei, und ich sagte, es ginge so, und mein Vater sagte »Aha«, dann sagten wir eine Weile nichts, und dann war das Essen fertig. Beim Essen durfte nicht geredet werden, weil mein Vater beim Essen seine Ruhe haben wollte. Es gab Rindsrouladen, die innen mit Senf bestrichen und in die Zwiebeln und Speck eingewickelt waren, mit Bindfäden zusammengehalten. Wir mußten sie auf dem Teller auswickeln. Ich kleckerte dabei immer alles voll, aber meine Eltern nicht, sie hatten ein paar Jahrzehnte mehr Übung im Rouladenauswickeln. Wenn sie sahen, wie ich die Roulade bearbeitete, schüttelte meine Mutter den Kopf, und mein Vater knurrte, das sei doch nicht so schwer und wieso ich das nicht lernen könnte und ob ich das absichtlich mache. Zu den Rouladen gab es Kartoffeln. Immer.
Nach dem Essen wurde gespült, weil mein Vater es nicht ertragen konnte, »wenn Weihnachten das ganze dreckige Geschirr herumsteht«.
Nach dem Spülen gingen wir ins Wohnzimmer, und während mein Vater eine Platte mit Weihnachtsliedern auflegte, holte meine Mutter die Geschenke aus dem Schrank, alle eingepackt in Papier mit vielen Tannen und Engeln drauf, auch Herzchen. Mein Vater bekam in diesem Jahr von meiner Mutter einen Satz neue Unterhosen, weil die von vor
Weitere Kostenlose Bücher