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Liegen lernen

Liegen lernen

Titel: Liegen lernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Goosen
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Eltern klären. Britta zog die Stirn kraus und verdrehte die Augen. Ich sagte, es würde aber wohl kein Problem geben. Dann stand ich auf und ging zur Toilette.
    Auf dem Weg dorthin kam ich an Juttas und Wilfrieds Schlafzimmer vorbei. Die Tür stand halb offen. Ich sah hinein. Das Bett war ungemacht. Erst beim zweiten Hinsehen sah ich, daß Jutta drin lag. Sie war nackt und schlief. Wilfried war nicht da. Jutta machte ein Geräusch und drehte sich in meine Richtung, die Augen geschlossen. Sie sah mich nicht. Aber ich sah sie. Sie war ganz nackt. Sie hatte große, schwere Brüste, die an den Seiten herunterrollen wollten. Und sie hatte keine Schamhaare. Sie war rasiert. Ich sah noch ein wenig hin, dann ging ich zur Toilette. Die Tür war verschlossen, und ich wollte gerade wieder weggehen, als der Schlüssel umgedreht wurde, die Tür aufging und Wilfried vor mir stand. Auch er war nackt. Er sagte »Hallo«. Ich sagte auch »Hallo«.
    »Alles klar?« fragte Wilfried.
    »Alles klar«, sagte ich und ging ins Bad.
    Jutta und Wilfried hatten Sex gehabt. Um halb fünf am Nachmittag. Während ihre Tochter Besuch hatte. Jutta und Wilfried waren Eltern. Der Gedanke, meine Eltern könnten Sex haben, verursachte mir Übelkeit.
    Ich setzte mich hin und pinkelte. Als Kind war ich sehr stolz gewesen, als ich endlich im Stehen pinkeln konnte. Aber Britta sagte, nur Machos pinkelten im Stehen und außerdem sei es unhygienisch, weil immer etwas daneben ging. Das sah ich ein.
    Als ich zu Brittas Zimmer zurückging, stand die Schlafzimmertür noch immer einen Spaltbreit auf. Ich sah Wilfried, wie er Jutta im Arm hielt. Beide waren immer noch nackt.
    Als ich zu Britta zurückkam, sagte ich eine Zeitlang nichts. Dann fragte mich Britta, was los sei, und dann erzählte ich ihr, was ich gesehen hatte. Britta lachte.
    »Ja, sie können sich manchmal nicht halten. Sie vögeln noch immer ziemlich viel miteinander. Ist doch toll.«
    Sie sagte das, als wisse sie alles darüber. 
     
    Weihnachten kam näher. Bei uns zu Hause lief das immer so ab: Am Heiligen Abend tauschten meine Eltern und ich Geschenke aus und hockten dann zusammen und hörten Weihnachtslieder oder sahen fern. Am ersten Feiertag mußten wir nachmittags zu Onkel Bertram, dessen Frau dann wieder ganz viel Essen zubereiten mußte. Von Onkel Bertram bekam ich immer einen Umschlag mit hundert Mark. Dafür mußten wir bis zum Abend bleiben und darauf warten, daß der Onkel betrunken wurde und wir gehen durften. Am zweiten Feiertag fuhren wir immer zu einer Cousine meiner Mutter, die alleine in einem Haus in der Nähe von Kassel wohnte. Drei Stunden hin und drei Stunden zurück. Dazwischen viel Kaffee und Kuchen. Meist war diese Cousine meiner Mutter gar nicht so alleine, denn es saßen noch andere ältere Damen und Herren mit uns im Wohnzimmer und erzählten Krankengeschichten. Aber zum Abschied sagte die Cousine, die Tante Martha hieß, wie sehr sie sich gefreut habe, daß wir da waren, denn sie hätte ja sonst nichts mehr vom Leben, seit der Emil, ihr Mann, gestorben sei. Emil war schon lange tot, und ich dachte, langsam müßte sie sich doch dran gewöhnt haben, aber jedes Mal erzählte Tante Martha wieder das gleiche, und wenn wir an der Wohnungstür standen und ihr die Hand gaben, dann fing sie meistens auch noch an zu heulen. Im Auto sagte mein Vater dann jedes Jahr, daß es mit der Martha auch jedes Jahr schlimmer werde, und ich wußte gar nicht, was er meinte, denn eigentlich war es doch jedes Jahr dasselbe, ich konnte da keine Steigerung erkennen. Aber das war auch das einzige, was mein Vater sagte, während wir die drei Stunden nach Hause fuhren. Meine Mutter guckte dann immer auf die Straße, und ich glaube, sie zählte die schwarzweißen Pfosten am Rande der Autobahn, denn sonst gab es da draußen wirklich nichts zu sehen. 
     
    Ich wartete auf den richtigen Moment, meinen Eltern zu sagen, daß ich Weihnachten woanders hingehen würde, aber der Moment kam nicht.
    Am 24. Dezember lag ich tagsüber in meinem Zimmer und tat und dachte nichts. Bis gegen Mittag schien noch einigermaßen Betrieb auf den Straßen zu sein, aber der war etwa ab vierzehn Uhr wie abgeschnitten. Ich stellte mich ans Fenster und zählte die Autos, die vorbeifuhren.
    Mein Vater hatte den Weihnachtsbaum eine Woche vor dem Fest gekauft und dann im Keller gelagert. Nicht bei seinen Platten, sondern im Gang, wo die Fahrräder der Nachbarn standen. Als es still geworden war auf den Straßen, holte mein

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