Liegen lernen
ich geheiratet. Er hieß Stefan und war fast doppelt so alt wie ich und hatte Geld wie Heu. Er ist Anwalt und Chef einer Kanzlei mit mehreren Niederlassungen. Wir lernten uns beim Squash kennen. Er sprach mich an, als ich vor der Umkleidekabine auf eine Freundin wartete. Nach einem halben Jahr haben wir geheiratet, und er kaufte diese Wohnung. Eine Zeitlang ging alles gut, dann fiel mir auf, daß ich in seinem Leben immer weniger vorkam und er mehr im Büro lebte als zu Hause. Die klassische Geschichte. Und als ich dann herausbekam, daß er was mit seiner Sekretärin hatte und die von ihm schwanger war, habe ich ihn rausgeschmissen. Er hat mir die Wohnung gelassen und mir einen Haufen Geld gegeben, wohl weniger aus Menschenfreundlichkeit als vielmehr, um alles möglichst schnell hinter sich zu bringen. Ich habe beides angenommen, weil ich dachte, daß ich es verdient habe. Die ganze Sache hat nur drei Jahre gedauert, liegt also mittlerweile lange genug zurück, daß du mir vertrauen kannst.«
Wir tranken Wein, und ein paar Sekunden lang starrte sie auf den Boden.
»Was sagst du dazu?« fragte sie dann.
»Was soll ich dazu sagen?«
»Stört es dich nicht?«
»Solche Sachen passieren nun mal.«
Sie streichelte meine Hand und lächelte mich an und sagte, ich sei so verständnisvoll und unkompliziert. Sie sagte, sie hätte sich wohl in mich verliebt. Ich rieb ihren Ringfinger zwischen meinem Daumen und Zeigefinger. Ich sagte, ich hätte mich auch in sie verliebt.
Es schien das beste zu sein, einfach stillzuhalten, dann liefen einem die tollsten Frauen über den Weg. Mit Gloria würde ich es aushalten, das wußte ich. Sie beeindruckte mich, und das war wichtig. Sie war älter, sie war geschieden. Das war gut. Ich wollte jemanden, der mehr wußte als ich. Jetzt konnte es funktionieren. Ich dachte daran, daß es gut sein müßte, Britta davon zu erzählen. Es würde Britta sicher imponieren, daß ich es schaffte, mit einer wie Gloria zusammenzusein.
Ein paar Tage später gingen wir spazieren. Es war September, aber noch ziemlich warm. Wir gingen umher, ohne viel zu reden, und sie hakte sich bei mir ein und legte ihren Kopf an meine Schulter. Wir achteten nicht darauf, wo wir hingingen und wie spät es schon war, jedenfalls war es dunkel, aber wolkenlos, und am Himmel waren eine Menge Sterne. Und dann gingen wir an einer Mauer entlang, und Gloria sagte: »Sag mal, ist das hier ein Friedhof?«
»Weiß nicht. Glaub schon.«
Sie machte sich los von mir und suchte den Eingang. Ein paar Meter weiter war ein gußeisernes Tor, das aber um einiges niedriger war als die Mauer. Es war verschlossen. Gloria machte Anstalten, drüberzuklettern.
»Was machst du da!« sagte ich. »Das ist ein Friedhof!«
»Ich weiß.« Sie hockte rittlings auf dem Tor, lachte und bedeutete mir, ebenfalls hochzuklettern. Dann sprang sie an der anderen Seite hinunter und lief weg. Ich kletterte über das Tor und folgte ihr. Ich fand sie auf dem Hauptweg, die Arme ausgebreitet und mit geschlossenen Augen das Gesicht dem Himmel zugewandt.
»Mann, ist das still hier!« sagte sie. »Findest du nicht auch?«
»Klar.«
Sie nahm mich bei der Hand und führte mich herum, als kenne sie sich aus.
»Es ist so schön still hier«, sagte sie. »Selbst wenn man manchmal noch etwas hört. Das ist ganz merkwürdig, findest du nicht auch?«
»Mhm«, machte ich.
Mir war mulmig zumute. Wie einem Kind, das einen Film sieht, der zu spannend ist. Mücke hatte früher immer »Gespenstergeschichten« von Bastei-Lübbe gelesen, Comics, die alle mit den Worten endeten: »Seltsam? Aber so steht es geschrieben.« Ich glaubte nicht wirklich daran, daß eine kalte Hand aus einem Grab nach mir greifen würde oder daß sich die Toten um Mitternacht versammelten, um sich gegenseitig zu erzählen, woran sie gestorben waren und an wem sie sich noch rächen müssen. Aber so etwas machte man einfach nicht. Nachts auf einem Friedhof herumlaufen. Wir waren hier doch nicht bei Tom Sawyer. Es fehlte nur noch, daß Gloria einen Kassettenrecorder hervorholte und wir The Cure oder Nick Cave hörten.
Gloria ging vor den Grabsteinen in die Knie und betrachtete die Inschriften. Einige der Menschen waren noch im neunzehnten Jahrhundert geboren und irgendwann in den Fünfzigern oder Sechzigern gestorben. Manche waren sehr alt geworden. Irgendwo lag eine Frau begraben, die neunundneunzig Jahre alt geworden war. Gloria sagte, das eine Jahr hätte sie auch noch vollmachen können. Dann
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