Liegen lernen
aus dem Fenster.
»Äh, wo war ich stehengeblieben?« fragte sie, und ich sagte, sie habe mir erklären wollen, weswegen sie mich zu diesem Gespräch gebeten habe.
»Ach ja, richtig, genau. Bitte entschuldigen Sie, manchmal trägt es mich fort, und ich bin nicht mehr richtig in der Welt. Es ist immer nur ein Detail, eine Fliege an der Wand oder etwas in der Art. Ihre Art, die Kaffeetasse an den Mund zu führen, hat mich an irgend etwas erinnert. Oder an irgendwen. Aber ich komme nicht drauf.«
Nachdem sie etwas lässig in ihrem teuren Bürostuhl mit Lederbezug und hoher Lehne zusammengesunken war, richtete sie sich nun wieder auf und zog das lindgrüne Damensakko straff, das sie über einem einfachen weißen T-Shirt trug.
»Ihre Seminararbeit über Friedrich Julius Stahl und den frühen deutschen Konservatismus hat mir außerordentlich gut gefallen. Sie haben die verfügbaren Quellen in der im Rahmen eines Hauptseminars möglichen Vollständigkeit ausgewertet, die relevante Sekundärliteratur angemessen berücksichtigt und außerdem noch einige interessante Thesen entwickelt, die Sie schlüssig belegen. Darüber hinaus ist die Arbeit gut geschrieben und nicht einmal besonders lang. Meinen Glückwunsch.«
»Danke.«
»Ich habe die Arbeit Professor Mutter gezeigt, und er war ganz meiner Meinung.«
Professor Sebastian Mutter war der Ordinarius für Neuere Geschichte, mit dem Schwerpunkt Europa bis 1914. Eine ebenso anerkannte wie wegen seiner angeblichen Strenge gefürchtete Koryphäe.
»Zum nächsten Semester wird bei Professor Mutter die Stelle einer studentischen Hilfskraft frei, und ich wollte Sie fragen, ob Sie nicht Interesse hätten, sich darum zu bewerben.«
Ein Job? An der Uni? Studentische Hilfskraft? Kopieren? Kaffee kochen?
»Es wären neun Stunden in der Woche, bei ungefähr sechzehn Mark die Stunde. Der Vertrag läuft zwei Jahre. Sie müßten natürlich auch den einen oder anderen niederen Dienst verrichten, hätten aber auch die Gelegenheit, eine Menge über wissenschaftliches Arbeiten zu lernen. Nächste Woche lädt Professor Mutter einige Studierende zu Vorstellungsgesprächen. Wenn Sie mir bis Ende dieser Woche Bescheid geben, ob Sie Interesse haben, sind Sie dabei.«
»Ich wüßte nicht, was dagegen sprechen sollte.«
»Sie müssen sich nicht verpflichtet fühlen, jetzt gleich zu antworten. Kommen Sie einfach am Freitag noch mal vorbei und geben mir Bescheid. Aber lassen Sie sich nicht ins Bockshorn jagen von dem, was man sich über Mutter erzählt… Man kann mit ihm auskommen.«
»Okay«, sagte ich, »ich komme am Freitag noch mal vorbei.«
»Ich bin bis drei im Büro.« Sie stand auf, gab mir die Hand und hielt mir die Tür auf und lächelte.
Gloria hielt es für eine gute Idee, den Job anzunehmen. Wir lagen im Bett. Sie las, und ich dachte nach.
»Naja, erst mal muß ich mich darum bewerben. Daß ich ihn kriege, ist gar nicht mal sicher.«
»Aber klar«, sagte sie, »ich kann mir nicht vorstellen, daß du ihn nicht bekommst.«
»Wieso nicht?«
»Naja, das kann ich einfach nicht.«
Ich ärgerte mich etwas. Was hatte sie für eine Ahnung davon, was an der Uni los war? Das war mein Bereich.
»Dann könntest du auch endlich diesen Parkhaus-Job an den Nagel hängen. Und wer weiß, was sich an der Uni noch für Kontakte ergeben.«
»Kontakte?«
»Naja, es kann doch wohl nicht falsch sein, bei so einem berühmten Prof zu arbeiten, oder? Da ergibt sich vielleicht was für die Zeit nach dem Studium.«
Nach dem Studium ist weit weg, dachte ich.
»Was liest du da eigentlich?« fragte ich sie. Sie zeigte mir den Umschlag des Buches. Da war ein gemaltes Bild von zwei Leuten, die sich küßten. Der Mann trug ein Rüschenhemd und hatte dichtes schwarzes Haar. Die Frau trug etwas pinkfarbenes, ebenfalls mit Rüschen, und ihr Dekollete streckte sich ihm entgegen. Der Rasen, auf dem beide standen, war sehr grün. Im Hintergrund war ein großes, weißes Haus mit Säulen davor.
»Ich frage mich, wie du so einen Schund lesen kannst«, sagte ich.
»Es entspannt mich.«
»Wie kann man bei so einem Mist entspannen?«
»Ich kann es nun mal.«
»Ich begreife das nicht.«
»Du mußt es ja nicht lesen.«
Am Freitag ging ich gegen halb drei in Roberta Applemans Büro. Sie war gerade dabei, ihre Sachen zusammenzupacken und versuchte gleichzeitig, einen Apfel zu essen. Sie hatte sich den Apfel in den Mund gesteckt und hielt ihn mit den Zähnen fest. Mit der einen Hand hielt sie ihre
Weitere Kostenlose Bücher