Liegen lernen
sie Chaos zu sein, vieles passierte gleichzeitig und schien keine Verbindung untereinander zu haben. Wenn man darauf zurückblickte, konnte man das Chaos in den Griff bekommen. Und wenn man dann darüber schrieb, war alles ganz klar. Roberta formulierte manchmal sehr umständlich und kam gerne mal vom rechten Weg der Fakten ab, um sich in feuilletonistischen Betrachtungen zu ergehen. Ich versuchte ihr das auszureden, wo es ging. Sie sagte, sie beneide mich. Sie strich mir über den Nacken und küßte meine Nase. Roberta konnte sehr gut küssen. Sie küßte sehr zart, und sie roch immer gut. Sie hatte sehr weiche Lippen und sehr gerade Zähne. Sie schloß immer die Augen beim Küssen und manchmal seufzte sie. Ich bekam dann eine Gänsehaut, aber das ging schnell vorbei. Manchmal lagen wir einfach stumm da und hörten Dexter Gordon. Und Roberta schmiegte sich in meine Arme, als sei ich der ältere von uns beiden.
Ich kann es nicht leugnen: Es schmeichelte mir, daß eine Frau, die fast doppelt so alt war wie ich, sich für mich interessierte. Sie hatte sicher schon einige Männer gehabt, aber ich war in die Wertung gekommen. Mit Roberta war alles so leicht. Da wurde nichts hin und her geredet, sie kleidete sich nicht so auffällig, sie fuhr keinen auffälligen Wagen, wir arbeiteten im selben Bereich, und sie las keine blöden Bücher. Dafür sahen ihr auch nicht alle Männer hinterher, aber das konnte ich verschmerzen. Ich konnte mich entspannen.
Ich traf mich mit Beck und erzählte ihm von Roberta. Irgendwer mußte es ja wissen. Er nickte und sagte herzlichen Glückwunsch. Aber es war nicht mehr das gleiche mit Beck. Wir waren freundlich zueinander, aber mehr auch nicht. Er sagte, Mariele sei schwanger. Sie wollten mindestens zwei oder drei Kinder. Ich sagte, das höre sich gut an.
Wenn ich den Abend nicht mit Roberta verbrachte, blieb ich zu Hause und arbeitete. Ich mußte noch eine Arbeit in Politik schreiben. Manchmal ging ich ins Raskolnikow und plauderte mit Uwe. Ich war dreiundzwanzig, ich hatte eine Affäre mit einer achtzehn Jahre älteren Frau, ich hatte ein Auto und eine Wohnung, und ich wußte nicht, was ich mehr haben wollte. Etwas mehr Geld vielleicht. Alles war sehr ruhig, und ich dachte, so kann es weitergehen, auch wenn es keine Richtung hatte. Aber das brauchte es auch nicht. Richtung hatte es erst, wenn es Geschichte war. Ich dachte manchmal an Britta, und ich dachte, daß es jetzt gut war. Daß ich an sie denken konnte, ohne daß etwas passierte.
Einmal saßen Roberta und ich abends in einer Kneipe. Wir waren im Kino gewesen, und der Film hatte uns nicht gefallen, wir waren mittendrin rausgegangen. Wir tranken Bier und unterhielten uns, und als ich gerade mein Glas zum Mund führte, sagte Roberta: »Jetzt weiß ich es!«
»Was denn?«
»Weißt du noch, als du das erste Mal in meinem Büro warst? Wie ich gesagt habe, deine Art, die Tasse an den Mund zu führen, erinnere mich an etwas?«
»Ja«, sagte ich, »ich erinnere mich.«
»Es ist mir jetzt eingefallen, woran es mich erinnerte!«
»Woran?«
»Ich saß einmal in einem Diner in Boston, als ich meinen Vater besuchte. Ich trank einen Kaffee, und außer mir war nur noch so ein komischer Mann da. Er hatte sich zwei kreisrunde, rote Flecken auf die Wangen gemalt. Er sah aus wie ein Clown, der sich nicht richtig abgeschminkt hatte. Er starrte mich ständig an, und ich wurde schon ganz sauer. Der hat die Tasse genauso zum Mund geführt wie du.«
»Wie denn?«
»Du faßt Kaffeetassen immer ganz oben an, am Rand, nur mit dem Mittelfinger und dem Daumen. Dein Zeigefinger steht dann ein bißchen ab. Ist ganz schön exaltiert.«
»Ist mir noch gar nicht aufgefallen.«
»Ist aber so.«
»Und der Mann in Boston hat das auch gemacht?«
»Ganz genauso.«
»Und was ist dann passiert?«
»Nichts. Er hat mich angestarrt, und ich habe zurückgestarrt. Irgendwann habe ich gezahlt und bin gegangen.«
Ich trank Kaffee wie ein Irrer in Boston. Das Leben war toll.
Eines Abends lagen wir im Bett und sahen uns den zweiten Teil von »Alien« an. Etwa gegen elf ging das Telefon. Es war Beck. »Sie haben die Grenzen aufgemacht!« sagte er.
»Wer? Welche Grenzen?«
»Die DDR, du Ignorant.«
»Naja«, sagte ich, »irgendwann mußten sie das ja wohl tun.«
»Ist das dein Ernst? Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?«
»Du, wir sehen da gerade einen ganz spannenden Film, können wir uns morgen weiter unterhalten?« Beck legte auf.
»Wer war dran?«
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