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Liegen lernen

Liegen lernen

Titel: Liegen lernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Goosen
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Fast sechs Stunden hatte ich Bier getrunken. Gloria war nicht da. Aber im Flur standen ein paar Kisten mit meinen Sachen. Ich setzte mich ins Wohnzimmer und wartete. Gloria kam nicht. Ich sah fern und wartete. Gegen zwei Uhr schlief ich kurz ein, wurde aber um Viertel nach vier wieder wach. Gloria war immer noch nicht da. Ich rief ein Taxi, trug die Kisten hinunter, warf meinen Schlüssel in Glorias Briefkasten und ließ mich in meine alte Wohnung fahren. Es war eine gute Idee gewesen, sie zu behalten.

12
    Ich konnte nachts nicht richtig schlafen, weil es zu laut war. Ich hatte mich an die Stille von Glorias Wohnung gewöhnt, jetzt ging mir der Straßenverkehr auf die Nerven. Ich blieb bis mittags im Bett liegen. Drei Wochen lang besuchte ich gar kein Seminar, ging nur zum Lehrstuhl, wenn ich arbeiten mußte. Einmal fragte mich Frau Schumann, ob ich krank sei. Ich sagte, es sei alles in Ordnung. Dann sagte sie, ich könnte mich mal wieder waschen. Das war mir unangenehm. Die Wochenenden verbrachte ich vollständig im Bett. Ich holte mir einen Vorrat an Videos aus der Videothek und sah mir zum Beispiel die Star-Wars-Trilogie in einem Rutsch an. Aber die Macht war nicht mit mir.
    Dann wechselte ich zu Filmen, die noch weniger Ansprüche an meine Konzentrationsfähigkeit stellten. Ich schaffte alle vier Superman-Filme mit Christopher Reeve an einem Abend. Zwischendurch ließ ich einfach den Fernseher laufen. Es beruhigte mich, daß da etwas geredet wurde. In der DDR regten sie sich plötzlich auf, daß die Kommunalwahlen gefingert worden waren. Dabei hatten wir doch bisher immer gedacht, die Zustimmung von 99,8 Prozent sei ehrlicher Ausdruck der Freude über die Leistungen des real existierenden Sozialismus gewesen! Es wurden Leute verhaftet, weil sie eine Kommunistin zu ernst genommen hatten, nämlich Rosa Luxemburg. Das war nicht ohne Witz. Ich bekam Rückenschmerzen, weil ich so viel im Bett lag und mich so wenig bewegte. Gloria meldete sich kein einziges Mal, um mich zu fragen, wie es mir ging. Dann war das Semester zu Ende.
    Den Sommer über tat ich nichts. Mutter war in Italien, wo er ein Haus hatte, und ich hatte sechs Wochen frei. Ich las ein wenig über die preußische Verfassungsdiskussion der sechziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts, weil Roberta Appleman im nächsten Semester ein Seminar dazu anbieten wollte, aber die meiste Zeit lag ich im Bett und sah fern. Der Sommer war ziemlich gut, aber das interessierte mich nicht. Ich lag da und sah fern. Manchmal ging ich los und lieh ein paar Videos aus, aber dann legte ich mich wieder ins Bett und sah fern. Zum Beispiel »Midnight Run« mit Robert de Niro und Charles Grodin. Grodin gibt einen Buchhalter, der der Mafia ein paar Millionen entwendet hat, und de Niro muß ihn in fünf Tagen nach L.A. bringen. Ich erinnerte mich daran, daß Grodin mal in einer Kurzserie mitgespielt hatte, die »Dallas« und »Denver« auf die Schippe nahm. Die Serie hieß »Fresno«, und im deutschen Fernsehen waren nur sieben Folgen gelaufen und auch die nur einmal. Es machte mich stolz, das zu wissen. Aus mir konnte noch richtig was werden. Ich aß Kartoffelchips und Leberwurstbrote. Manchmal kochte ich mir ein paar Nudeln oder holte mir Pommes frites, aber meistens sah ich fern.
    Immerhin blieb ich dadurch auf dem laufenden. Eine Menge Menschen wollten nicht mehr in dem anderen Deutschland bleiben. Mit Plastiktüten in der Hand kletterten sie über die Zäune irgendwelcher Botschaften und blieben da. Ich schob mir Chips in den Mund und fragte mich, warum die nicht wenigstens richtige Koffer hatten.
    Abends trank ich Wein oder Bier. Meistens war ich betrunken, wenn ich einschlief. Mit der Zeit hatte ich Übung und konnte mehr trinken, bis ich blau war. Ich nahm einen Schluck Bier und dachte, daß die DDR bald ziemlich leer sein würde, wenn alle abhauten. Siebentausend Leute waren in der Botschaft in Prag. Das mußte eine große Botschaft sein. Ich konnte mir das kaum vorstellen. Aber es war im Fernsehen. Es mußte wahr sein.
    Ein paarmal traf ich mich mit Beck, aber er sagte nur, ich solle mich mal wieder rasieren. Er war immer noch glücklich mit seiner Mariele. Er sagte, sie wollten heiraten. Ich sagte herzlichen Glückwunsch. Er nahm mir übel, daß ich das mit Gloria nicht hinbekommen hatte.
    Im September mußte ich wieder am Lehrstuhl arbeiten. Aber das Semester hatte noch nicht wieder angefangen, und Mutter war noch nicht zurück. Wenn ich zur Uni fuhr, wusch ich mich und

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