Life - Richards, K: Life - Life
melden. Und plötzlich ist er da: »Hey, jetzt weiß ich, wie er geht.« Und du kannst es nicht fassen, weil du nicht glauben willst, dass er einfach so aus dem Nichts entsteht. Du denkst dir, wo hab ich das jetzt wieder geklaut? Falsch, das ist das Original - na ja, jedenfalls so original, wie es eben sein kann. Und du erkennst, dass Songs sich selbst schreiben: Du bist nur der Überbringer.
Das heißt nicht, dass ich nicht hart gearbeitet hätte. Manche von den Songs haben uns fast das Kreuz gebrochen. Sie sind fünfunddreißig Jahre alt, und ich bin immer noch nicht ganz fertig damit. Du schreibst den Song, aber damit ist die Sache noch nicht erledigt. Welchen Sound soll er haben, welches Tempo, welche Tonart, steigen auch alle in der Band voll drauf ein? Bei »Tumbling Dice« brauchten wir ein paar Tage, bis alles passte. Ich weiß noch, dass ich mehrere Nachmittage an dem Intro gefrickelt habe. Man kann einem Musikstück anhören, wie viel daran Berechnung ist und wie viel Intuition. Man kann nicht immer intuitiv arbeiten. Es spielt eine große Rolle, wie viel oder wie wenig Berechnung ein Stück verträgt. Mehr als andersrum. Man muss die Bestie zähmen, so oder so. Aber wie? Behutsam oder mit einem Schlag auf den Schädel? Dir zeig ich’s jetzt, du blöder Song. Du kriegst jetzt doppelt so viel Tempo, wie ich dir eigentlich geben wollte, als ich dich geschrieben habe!
Du entwickelst eine Beziehung zu deinen Songs. Du redest mit ihnen. Du bist erst fertig, wenn ich sage, dass du fertig bist, kapiert? Auf die Tour eben. O nein, so läuft das nun wirklich nicht, da wolltest du nicht hin. Manchmal entschuldigst du dich sogar: Tut mir leid, Song, aber das wollte ich jetzt auch nicht. Sind komische Dinger, diese Songs. Wie kleine Babys.
Ein Song sollte von Herzen kommen. Ich wollte nie darüber nachdenken. Ich nehme einfach die Gitarre oder setze mich ans Klavier und warte ab. Irgendwas kommt schon. Und dringt in mich ein. Wenn nicht, dann spiele ich einen Song von jemand anders. Ich bin nie, kein einziges Mal, an dem Punkt gewesen, wo ich gesagt habe: »Okay, ich setz mich jetzt hin und schreibe einen Song.« Nie! Als ich das erste Mal festgestellt habe, dass ich das kann, habe ich mich gefragt, ob ich es auch ein zweites Mal könnte. Und dann habe ich gemerkt, dass sie mir nur so aus den Händen kullerten, wie Perlen. Ich konnte plötzlich mühelos Songs schreiben. Es war das reine Vergnügen. Eine wundervolle Gabe, die mich verblüffte. Sie verblüfft mich noch immer.
Irgendwann im Juli tauchte Gram mit Gretchen, seiner zukünftigen Braut, in Nellcôte auf. Er arbeitete schon an den Songs für sein erstes Soloalbum GP . Ich kannte ihn jetzt schon ein paar Jahre und hatte das Gefühl, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis er etwas wirklich Herausragendes erschaffen würde. Tatsächlich veränderte er das Gesicht der Country Music, sollte aber selbst nicht mehr lange genug unter uns weilen, um es noch mitzuerleben. Seine großen Meisterwerke nahm er ein Jahr später mit Emmylou Harris auf. »Streets of Baltimore«, »A Song for You«, »That’s All It Took«, »We’ll Sweep Out the Ashes in the Morning«. Wann immer wir uns trafen, spielten wir zusammen. Wir spielten die ganze Zeit. Wir schrieben gemeinsam Songs. Ganze Nachmittage
lang verloren wir uns in Songs von den Everly Brothers. Es ist schwer in Worte zu fassen, wie sehr Gram seine Musik liebte. Er lebte nur für sie. Und nicht nur für seine eigene Musik, für die Musik überhaupt. Er war wie ich. Er wachte mit George Jones auf, drehte sich wieder um und wachte beim nächsten Mal mit Mozart auf. Ich übernahm unglaublich viel von Gram: die Melodien und Texte aus der Bakersfield-Schule, die anders waren als beim süßlichen Nashville-Sound; die Tradition von Merle Haggard und Buck Owens; die Songtexte aus der Einwandererwelt der Farmer und Ölarbeiter in Kalifornien. Dort hatten sie in den Fünfzigern und Sechzigern ihren Ursprung genommen. Dieser Country-Einfluss machte sich auch bei den Stones bemerkbar - in Songs wie »Dead Flowers«, »Torn and Frayed«, »Sweet Virgina« und »Wild Horses«. Letzteren schenkten wir Gram für das Album Burrito Deluxe von den Flying Burrito Brothers, wir selbst veröffentlichten ihn erst später.
Gram und ich hatten Pläne oder zumindest große Hoffnungen für die Zukunft. Du harmonierst perfekt mit jemandem, und du denkst, wir haben noch Jahre Zeit, also keine Hektik, Mann. Wir können noch jede Menge
Weitere Kostenlose Bücher