Life - Richards, K: Life - Life
dir, glasklar, kein Zweifel möglich. Ich hab einen!« Er litt unter Kokain-Käfern. Ich dachte mir, fahr runter und halt deinem Freund ein bisschen die Hand … wenn er schon einen erwischt hat. Seit Wochen schon erklärten ihn die Leute für verrückt, weil er davon überzeugt war, dass er von Insekten infiziert war. Also fuhr ich hin, und er zeigte mir ein Kleenex, in dem ein kleines blutiges Loch war. »Siehst du? Ich hab einen erwischt.« - »Ist das dein Ernst, John? Jetzt denk doch mal nach, Kumpel.« Ich war anderthalb Stunden gefahren, nur um mir das anzuschauen. Er hatte sich überall wundgekratzt. Sein ganzer Körper war verschorft. Aber diesmal war er davon überzeugt, dass er einen erwischt hatte. Er starrte auf das Kleenex: »Scheiße, er ist abgehauen!« John hatte sich eine Apotheke gekauft. (Wer tat das nicht in jenen Tagen? Freddie Sessler besaß mehrere Drugstores.) Er war in katastrophaler Verfassung. Im Schlafzimmer stand ein verstellbares Krankenhausbett, das aber nicht richtig funktionierte. Der Spiegel im Bad wurde nur noch von Klebeband zusammengehalten. Egal, aus welchem Winkel man sich anschaute, man sah immer zerrissen aus. In der Wand steckten Spritzen, die er als Dartpfeile benutzt
hatte. Trotzdem machten wir Musik, zusammen mit anderen Musikern. Wir fingen nie vor Mitternacht an, manchmal erst um zwei. Ich stand das ohne Heroin durch. Ahmet Ertegun stoppte schließlich Johns Soloprojekt, weil er in dieser Verfassung nicht mehr arbeiten konnte.
Die Sessions für Some Girls im seltsam geschnittenen Pathé Marconi Studio in Paris brachten frischen Wind. Das Album sollte wie eine Verjüngungskur wirken, überraschend angesichts der düsteren Umstände, unter denen es entstand. Schließlich war es absolut möglich, dass ich schon bald ins Gefängnis wanderte und damit das Ende der Stones besiegelt wäre. Vielleicht spielte das aber auch eine positive Rolle. Bevor die Bombe hochgeht, müssen wir noch mal ordentlich auf den Putz hauen. Es erinnerte mich ein bisschen an Beggars Banquet - eine lange Phase des Schweigens und dann mit neuem Sound das fulminante Comeback. Bei sieben Millionen verkauften Alben und zwei Top-Ten-Singles, »Miss You« und »Beast of Burden«, erübrigt sich jede Debatte.
Wir hatten nichts vorbereitet. Alles wurde im Studio geschrieben, Tag für Tag. Es war wie früher, wie Mitte der Sechziger in den RCA-Studios in Los Angeles - die Songs strömten aus uns heraus. Ein weiterer großer Unterschied zu den letzten Alben war der, dass wir keine Gastmusiker im Studio hatten - keine Bläser, keinen Billy Preston. Zusätzliche Instrumente wurden später hinzugefügt. Wenn es in den Siebzigern etwas gab, das uns vom Weg abgebracht hatte, dann war es das zunehmend größere Aufgebot an Gastmusikern. Das hatte einige Male unsere besten Instinkte verschüttet. Es lag also wieder an uns, und es lag - es war Ronnie Woods erstes offizielles Stones-Album - an Ronnies und meinem Gitarrenspiel, wie wir uns bei Stücken wie »Beast of Burden« ergänzten. Wir waren zielstrebiger, und wir arbeiten härter denn je.
Einen großen Anteil am Sound von Some Girls hatte der Toningenieur und Produzent Chris Kimsey, mit dem wir zum ersten Mal zusammenarbeiteten. Wir kannten ihn aus seiner Lehrzeit in den Olympic-Studios, er kannte unsere Musik in- und auswendig. Er sollte später als Toningenieur oder Co-Produzent noch an acht weiteren Stones-Alben beteiligt sein. Wir durften nicht noch ein weiteres blasses Stones-Album produzieren, wir mussten was Besonderes aus dem Hut zaubern. Er wollte wieder einen Livesound, weg von dem klinisch sauberen Sound, in den wir abgeglitten waren. In den Pathé Marconi Studios waren wir gelandet, weil sie der EMI gehörten, mit denen wir gerade einen großen Vertrag abgeschlossen hatten. Das Studio befand sich in den Außenbezirken von Paris, in Boulogne-Billancour t in der Nähe der Renault-Werke, wo es weit und breit keine Restaurants oder Bars gab. Ich weiß noch, dass ich jeden Tag mit dem Auto hin- und herpendelte und dabei immer Jackson Brownes Running On Empty hörte. Wir hatten einen riesigen Proberaum gemietet, so groß wie ein Filmstudio. Der Kontrollraum mit seinem primitiven Mischpult aus den Sechzigern und einfacher Sechzehn-Spur-Technik war so winzig, dass kaum zwei Leute darin Platz fanden. Und er hatte eine seltsame Form. Das Mischpult stand vor dem Fenster und einer Wand, an der die Lautsprecher hingen. Die Wand stand aber nicht im rechten
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