Life - Richards, K: Life - Life
später. Wahrscheinlich lag es einfach an den beschissenen englischen Wintern.
Weil wir nicht viel zu tun hatten - Gigs bekamen wir nur selten -, beobachteten wir die Leute. Und wir staubten Sachen aus den anderen Wohnungen ab. Durchwühlten, wenn sie nicht da waren, unten bei den Mädchen die Schubladen nach einem oder zwei Shillings. Im Scheißhaus hatten wir ein Mikro versteckt, das mit einem Tonbandgerät verkabelt war. Wir stellten es einfach an, wenn jemand aufs Klo ging, vor allem wenn eine der Miezen von unten anfragte, weil ihres gerade besetzt war. »Kann ich mal eben auf euer Klo?« - »Ja, klar … Los, schnell, mach an!« Wenn dann nach der »Vorstellung« die Kette gezogen wurde, hörte sich das an wie tosender Applaus. Später spielten wir es noch einmal ab. Jeder Klobesuch hatte einen Sound wie Sonntagabend im Londoner Palladium.
Der schlimmste Horror für jeden, der uns in Edith Grove besuchte, waren sicher die schmutzigen Geschirrberge in unserer sogenannten Küche, die zwischen den Tellern herauswuchernden Substanzen, die kalten, fettverschmierten Pfannenpyramiden, die kein Mensch anzurühren wagte. Und irgendwann kam der Tag, als Phelge und ich vor diesem Chaos standen und ernsthaft der Meinung waren, dass uns möglicherweise nichts anderes übrig bliebe, als abzuwaschen. Wenn man bedenkt, dass Phelge einer der verdrecktesten
Menschen der Welt war, war das eine historische Entscheidung. An diesem Tag waren wir tatsächlich so überwältigt vom Ausmaß der Vermüllung, dass wir nach unten gingen und eine Flasche Geschirrspülmittel klauten.
In jener Zeit erschien uns unsere Armut als eine unverrückbare Konstante. Der Winter’62 war eiskalt und wirklich hart für uns. Bis Brian eine fantastische Idee hatte: Er schleppte seinen Freund Dick an, der eine Abfindung aus seiner Zeit bei der Territorial Army hatte. Brian nutzte Dick gnadenlos aus. Uns war das egal, wir profitierten ja davon. Wenn man keine zwei Scheißpennys zusammenkratzen kann, dann läuft das eben so. Er hieß Dick Hattrell und kam aus Tewkesbury. Brian brachte den Burschen fast um. Er nötigte ihn, hinter ihm herzuzockeln und für alles zu bezahlen. Grausam, wirklich grausam. Brian befahl ihm, draußen vor unserer Tür stehen zu bleiben, während wir drinnen aßen, und hinterher für alles zu bezahlen. Manchmal ließ er ihn zum Nachtisch rein. Sogar Mick und ich waren schockiert, obwohl auch wir ziemlich abgebrüht waren. Brian hatte eine echt brutale Ader. Dick Hattrell war ein alter Schulfreund von ihm, er hechelte ihm wie ein Schoßhündchen hinterher. Einmal ließ Brian den armen Kerl draußen vor dem Fenster stehen, ohne Klamotten, und es schneite, und er bettelte, aber Brian lachte ihn nur aus, und auch ich konnte mich gar nicht mehr einkriegen vor Lachen. Wie konnte ein Mensch nur in so eine Lage geraten? Brian schnappte sich einfach seine Klamotten und schickte ihn nur in Unterhosen nach draußen. In einen Schneesturm. »Was soll das heißen, ich schulde dir dreiundzwanzig Pfund? Verpiss dich!« Er hatte gerade den ganzen Abend alles für uns bezahlt, wir hatten geschlemmt wie die Fürsten. Schrecklich, einfach schrecklich. »Brian, das kannst du nicht bringen«, sagte ich, »das ist einfach herzlos.« Brian war ein grausames, bösartiges Arschloch. Aber dafür klein und blond. Ich frage
mich, was aus Hattrell geworden ist. Wenn er das überlebt hat, dann konnte er alles überleben.
Wir waren zynisch und sarkastisch und wenn nötig rüpelhaft. Wir gingen immer in ein Café, das wir »Ernie« nannten, weil jeder, der da verkehrte, »Ernie« hieß. Kam uns jedenfalls so vor. Bald hieß jeder für uns »Ernie«. »Was für ein beschissener Ernie!« Wer darauf bestand, einfach seine Arbeit zu machen und nicht mal ein bisschen Kleingeld für uns springen ließ, der war ein beschissener Ernie. Ernie war der arbeitende Mensch. Der nur eins im Sinn hatte, nämlich noch einen Shilling mehr zu verdienen.
Wenn ich die Möglichkeit hätte, mir ein Tagebuch über eine x-beliebige Zeitspanne von drei Monaten in der Geschichte der Rolling Stones zu wünschen, dann wäre das diese gewesen. Die Zeit, in der die Band aus ihrem Kokon schlüpfte. Und ich fand tatsächlich eines, das die Monate Januar bis März 1963 einschloss. Die eigentliche Überraschung war, dass ich tatsächlich jede Aufzeichnung aus dieser Phase aufgehoben hatte. Sie decken den entscheidenden Zeitraum ab: als Bill Wyman, beziehungsweise - was wichtiger war: der
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