Life - Richards, K: Life - Life
kurzes Leben. Aber er sprudelte nur so vor Inspiration. Er lieferte ein Fundament, auf dem man aufbauen konnte, so wie Muddy und die anderen Jungs, deren Musik wir hörten. Rückblickend muss ich sagen, dass beim Blues und bei Musik allgemein nichts aus sich selbst heraus entsteht. So toll auch alles sein mag, nichts entspringt einem plötzlichen Geniestreich. Ein Typ hört irgendjemandem zu, und daraus wird dann seine Version des Themas. Alles ist mit allem verbunden. Es ist nicht einfach so, dass einer fantastisch ist und die anderen sind Schrott; sie sind alle voneinander beeinflusst. Und je weiter man in der Musik und der Zeit zurückgeht - und beim Blues landet man schnell in den Zwanzigern -, desto mehr denkt man sich: Gott sei Dank gibt es inzwischen die Möglichkeit der Tonaufnahme. Was Besseres ist uns seit Erfindung der Schrift nicht passiert.
Aber manchmal brach selbst in unsere Sphäre die Realität ein. In diesem Fall war es Mick, der eines Abends betrunken Brian besuchen wollte, ihn nicht vorfand und stattdessen mit Pat vögelte. Das führte zu heftigen seismischen Erschütterungen, verärgerte Brian furchtbar und führte schließlich dazu, dass Pat ihn verließ. Dann wurde Brian auch noch aus seiner Wohnung geworfen. Mick fühlte sich mitverantwortlich, also tat er eine Wohnung in einem trostlosen
Bungalow in einer Vorstadtstraße in Beckenham auf, wo wir gemeinsam einzogen. Meine erste Bleibe, als ich 1962 zu Hause auszog. Es war ein Abschied auf Raten. Zuerst immer mal für eine Nacht, dann eine Woche und dann für immer. Diesen einen letzten Moment des Fortgehens, in dem man die Tür endgültig hinter sich schließt, den gab es nicht.
Doris hatte zu diesem Thema Folgendes zu sagen.
Doris: Von seinem achtzehnten Lebensjahr bis zu seinem Auszug mit zwanzig hatte Keith keinen Job, gar nichts, und deshalb nörgelte sein Vater ständig an ihm rum. »Schneid dir die Haare und such dir einen Job.« Ich wartete, bis Keith weg war, bevor ich selber auszog. Ich wollte nicht weg, solange er noch da war. Ich konnte ihn doch nicht alleinlassen, oder? Hätte ihm das Herz gebrochen. An dem Tag, als ich auszog, ging Bert gerade zur Arbeit. Ich hatte eine Stromrechnung in der Hand, und ich marschierte damit raus und warf die Rechnung wieder in den Briefkasten! Sollte Bert sie doch bezahlen. Nette Geste, was? Bill kaufte eine Erdgeschosswohnung, weil ich ihm gesagt hatte, dass ich zu Hause rausmusste. Sie stellten gerade diese neuen Mietwohnungen fertig, und er ging hin, einigte sich mit dem Bauträger, und wir zogen ein. Bill hatte etwas Geld. Hat es bar auf den Tisch gelegt. In dieser Wohnung bekam ich mein erstes eigenes Telefon. Eines Abends rief ich Keith an. Er sagte: »Ja?« Ich sagte: »Keith, ich bin umgezogen. Ich hab jetzt ein eigenes Telefon, ist das nicht herrlich?« Er war nicht ganz so begeistert.
Hier in Beckenham fingen wir auf unerklärliche Weise an, diesen kleinen harten Kern erster Fans anzuziehen, zu denen auch Haleema Mohamed gehörte, meine erste Liebe. Erst kürzlich hat mir
jemand mein Tagebuch von 1963 zurückverkauft - das einzige Tagebuch, das ich je geführt habe, glaube ich, und vor allem ein Logbuch über die Fortschritte der Stones in jenen anstrengenden ersten Tagen. Ich muss es in einer der Wohnungen liegengelassen haben, aus denen wir ständig wieder auszogen, und wer es auch gefunden hat, er hat es all die Jahre hindurch brav gehütet. In der hinteren Klappe steckte ein winziges Foto von Lee, so nannte ich sie. Sie war eine Schönheit mit einem leicht indischen Touch. Die Augen und ihr Lächeln hatten es mir angetan, beides ist auf dem Foto eingefangen, genau wie ich es in Erinnerung habe. Sie war mindestens zwei oder drei Jahre jünger als ich, fünfzehn oder höchstens sechzehn; ihre Mutter war Engländerin. Ihren Vater habe ich nie gesehen, aber ich weiß noch, wie ich dem Rest der Familie vorgestellt wurde. Ich erinnere mich, wie ich sie in Holborn abholte und allen Guten Tag sagte.
Ich war verknallt in Lee. Unser Verhältnis war rührend unschuldig - zum Teil vielleicht auch deshalb, weil wir, wenn wir uns hätten näherkommen wollen, es nur in einem Zimmer voller Gestalten wie Mick und Brian hätten tun können. Außerdem war sie wirklich noch sehr jung und lebte bei ihren Eltern, ein Einzelkind wie ich. So sehr sie mich auch mochte, sie hat einiges mit mir durchmachen müssen. Offensichtlich trennten wir uns zwischenzeitlich und kamen wieder zusammen. Im Tagebuch
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