Liliane Susewind – Rückt dem Wolf nicht auf den Pelz! (German Edition)
das denn? Steht da oben ein Hund?«
Lillis Kopf fuhr hoch. Auf dem Vorsprung in der steilen Felswand stand er wieder – der Wolf! Lillis Herz begann erneut schnell zu klopfen, doch diesmal vor Aufregung. Wegen ihres Streits hatte sie vollkommen vergessen, Jesahja von dem Wolf zu erzählen! Sie hatte in dem ganzen Chaos sogar fast vergessen, dass der Wolf da gewesen war. Aber nun stand er wieder dort oben, ruhig und stark, und schaute mit wachsamem Blick zu ihr herunter.
»Das ist ein –«, rief Jesahja, aber Lilli legte schnell den Finger auf die Lippen und machte »Schhh!«
Oleg, der einige Meter vor ihnen hermarschierte, hatte den Wolf offenbar noch nicht bemerkt, ebenso wenig wie die anderen Männer auf dem Feld. Das graue Fell des Wolfes fiel vor dem grauen Fels kaum auf.
Jesahja verstummte sofort, starrte aber weiter fasziniert zu dem Vorsprung hinauf.
Als Oleg sich kurz darauf zu ihnen umdrehte, guckten Jesahja und Lilli schnell auf den Boden. Doch die Blicke des Wolfes konnte Lilli noch immer fühlen.
Kaum waren sie wieder allein im Wohnwagen, fuhr Jesahja sich mit beiden Händen an den Kopf. »Das gibt’s ja gar nicht! Da oben steht ein echter Wolf!«
»Ja!« Lilli war ebenso aufgeregt wie er. »Ich hab ihn heute Morgen schon gesehen. Da stand er auch auf dem Felsvorsprung. Er muss irgendwie dahingeklettert sein.«
»Lebt er hier?« Jesahja schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich habe zwar gelesen, dass es einige frei lebende Wölfe in Europa geben soll, aber nicht hier bei uns! Oder doch?« Überlegend hielt er inne. »Keine Ahnung. Aber eines weiß ich: Der Wolf ist bestimmt deinetwegen hier, Lilli!«
»Der Wolf … ist gut«, antwortete Lilli unbeholfen. »Ich glaube, er … wacht über mich. Er scheint zu wissen, dass ich gefangen gehalten werde. Zumindest habe ich das Gefühl.«
Jesahja sog laut die Luft ein, als sei ihm gerade etwas klargeworden.
»Was?«
»Lilli!« In Jesahjas Augen funkelte es. »Der Wolf ist ein Raubtier! Ein großes, gefährliches Raubtier!«
»Er tut mir garantiert nichts …«, begann Lilli, aber das Funkeln in Jesahjas Augen ließ sie verstummen. Dann dämmerte es ihr. »Meinst du …« Sie blinzelte hektisch. »Meinst du, der Wolf könnte uns helfen, hier herauszukommen?«
Jesahja grinste. »Genau das meine ich.«
Lilli brachte vor Aufregung kein Wort heraus.
»Der Wolf hat noch gefehlt …«, murmelte Jesahja, kratzte sich am Hinterkopf und blickte abwesend ins Leere.
»Wie meinst du das?«, flüsterte Lilli.
»Ich habe mir etwas überlegt …«, murmelte Jesahja, nun völlig in Gedanken versunken. »Ich habe mir einen Plan zurechtgelegt. Aber er klappte noch nicht richtig. Der Wolf ändert allerdings alles …«
»Was für einen Plan?«
Jesahja schaute auf. »Hast du die ganzen Tiere nicht bemerkt?«
»Meinst du die Vögel, die Eichhörnchen und den Igel?«
»Und die Feldhasen am Rande des Ackers! Und den Iltis, der im Gebüsch hinter den Blättern hervorgeguckt hat! Und den Falken, der über uns gekreist ist!« Jesahjas Augen leuchteten. »Es ist, als hätte sich eine ganze Armee von Tieren rund um das Camp eingefunden!«
Lilli hob erstaunt die Brauen. Hasen? Ein Iltis und ein Falke? Diese Tiere hatte sie gar nicht bemerkt.
»Ich habe die ganze Zeit darüber nachgegrübelt, wie uns die Waldtiere helfen könnten«, fuhr Jesahja fort, »aber Eichhörnchen und Hasen sind nicht dazu geeignet, es mit einer Bande von Verbrechern aufzunehmen.« Er grinste wieder. »Durch den Wolf sieht die Sache allerdings komplett anders aus.«
Lilli hörte Jesahja mit heißen Wangen zu. Dann runzelte sie die Stirn. »Können wir den Wolf denn einfach einplanen?«
»Du hast doch eben gesagt, du hast das Gefühl, dass der Wolf gut ist. Und dein Gefühl hat dich noch nie getäuscht.«
Lilli stimmte nachdenklich zu. Sie konnte sich zumindest nicht erinnern, dass sie mit ihrem Bauchgefühl jemals danebengelegen hätte.
»Der Wolf würde dir garantiert helfen. Ebenso wie die anderen Tiere. Was denkst du, warum sie hier beim Camp sind?«
»Sie sind meinetwegen hergekommen«, erwiderte Lilli zaghaft.
»Genau! Weil sie fühlen, dass du jemand Besonderes bist, Lilli!«, rief Jesahja. »Weil sie dich … erspürt haben. Und jetzt sind sie hier, um dir beizustehen!«
Lilli nickte wieder. Im Laufe der vergangenen Jahre hatte sie genügend Erfahrungen mit ihrer Gabe gemacht, um zu wissen, dass Tiere ihre spezielle Verbindung zu ihnen einfach fühlten. Deswegen wurde
Weitere Kostenlose Bücher