Liliane Susewind – Tiger küssen keine Löwen (German Edition)
Frau von Schmidt, die direkt vor ihm stand. »Gnädigste? Sie haben mich gerufen?«
»Sir, wie liebenswürdig von Ihnen, meiner Bitte nachzukommen«, flötete die orange getigerte Dame formvollendet. »Mein Name ist Frau von Schmidt.«
»Hocherfreut, Madame«, antwortete der Kater galant. »Sie entstammen sicherlich einem hochwohlgeborenen französischen Adelsgeschlecht. Ihr bemerkenswert fein gestreiftes Fell und der liebliche Glanz Ihrer Schnurrhaare lassen keinen anderen Schluss zu.«
»O Sir, wie reizend von Ihnen.« Frau von Schmidt strich sich versonnen mit der Pfote über die Schnurrhaare.
»Ich entstamme dem Geschlecht der Pongs«, erklärte der graublaue Kater mit stolz geschwellter Brust.
»Beeindruckend! Äußerst beeindruckend!« Frau von Schmidt klimperte mit den Wimpern.
»Madame de Schmidt«, sprach Smoky in gewichtigem Tonfall. »Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Nun, Sir Smoky, ich habe hier ein Menschenmädchen mitgebracht, das Sie gern etwas fragen würde. Wären Sie so freundlich, sich ihr Gesuch anzuhören?«
»Aber selbstverständlich, Madame. Ich stehe ganz zu Ihren Diensten.« Smoky wandte sich gönnerhaft an Lilli, dann fiel ihm offenbar etwas ein. »Ähm … das Menschenmädchen möchte … äh … mit mir sprechen?«
»Ganz richtig, Sir. Frau von Susewind ist in der Lage, die hoch entwickelte Sprache der Katzen zu verstehen.«
Smoky verlor beinahe seine Haltung, doch dann besann er sich auf seine Manieren. »Ja, wenn das so ist, dann möge sie beginnen.«
Der Kater blickte abwartend auf Lillis Ellbogen, und Lilli nahm an, dass sie nun sprechen sollte. »Sir Smoky, bei Ihnen wohnt ein Junge namens Bao. Er trägt meistens bunte Stoffschuhe.«
»Das ist korrekt.«
»Wissen Sie, warum er diese Schuhe trägt?«
Der Kater ließ sich auf sein pummeliges Hinterteil nieder und klopfte nachdenklich mit dem blaugrauen Schwanz auf den Boden. »Er trägt die Schuhe schon seit langer Zeit. Seit sein Vater daniederlag.«
»Herr Pong war krank?«
»Ja, er hat lange im Bett verweilt. Seitdem ist er äußerst übellaunig. Es scheint mir, als sei er irgendwem furchtbar gram.«
»Sie meinen, er ist böse auf jemanden? Auf wen?«
»Das kann ich nicht beantworten. Er geht jeden Morgen fort. Wenn er abends zurückkehrt, ist er missgelaunter als zuvor. Ich schlussfolgere: Dort, wo sich Herr Pong den ganzen Tag über aufhält, gibt es jemanden, dem er absolut nicht gewogen ist.«
»Sir Smoky von Pong!«, platzte Frau von Schmidt voller Inbrunst heraus. »Sie sind derart detektivisch gewitzt, dass es mir den Atem verschlägt.«
»Madame de Schmidt«, gab Smoky hochtrabend zurück, »man tut eben, was man kann.«
Lilli unterbrach die beiden. »Herr Pong ist den ganzen Tag über im Zoo.«
»Oh, dieser merkwürdige Ort, wo sich allerlei seltsame Herrschaften hinter Stäben befinden?«
»Genau. Waren Sie schon mal im Zoo?«
»Durchaus. Früher bin ich äußerst gern dort gelustwandelt. Aber seit einiger Zeit verlasse ich den Palast nur noch sehr selten.«
»Palast? Oh, Sie meinen das Haus.« Lilli verkniff sich ein Grinsen. »Warum gehen Sie denn nicht mehr raus?« Lilli hoffte, zumindest dieser Frage auf den Grund gehen zu können, wenn sie schon nicht herausbekommen konnten, wovor Herr Pong Bao mit den Schuhen schützen wollte.
»Das ist privat.« Dem kleinen dicken Kater war die Frage augenscheinlich peinlich.
»Verraten Sie es uns doch«, bat Lilli. »Vielleicht können wir Ihnen helfen.«
Frau von Schmidt warf ein: »Zweibeiner haben in Ausnahmefällen durchaus die Möglichkeit, Schnurrherrschaften hilfreich zur Seite zu stehen, Sir Smoky.«
Der Kater zögerte, dann erwiderte er: »Da haben Sie wahrscheinlich recht, Verehrteste.« Er schnaufte. »Nun gut, ich werde mich Ihnen anvertrauen. Es ist mir äußerst unangenehm, dies zugeben zu müssen, aber es kommt vor – sehr selten, doch hin und wieder eben schon –, dass ich mit Gegenständen zusammenstoße.«
»Wie bitte?« Frau von Schmidt stellte verwundert die Ohren auf.
»Mein Sehvermögen ist leicht eingeschränkt und aus diesem Grunde kollidiere ich hin und wieder mit Hindernissen.«
»Oh.«
»Dies ist außerhalb des Palastes, wenn ich mich in unbekanntem Gebiet befinde, etwas störend.«
Frau von Schmidt erhob sich voller Energie. »Sir Smoky von Pong, lassen Sie mich Ihnen eine Frage stellen: Würden Sie es wagen, unbekannte Gegenden zu beschreiten, wenn Sie von jemandem begleitet würden, dessen Sehkraft besser
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