Lilians Verfuehrung
anderes zu tun. Und doch immer wieder verstohlen auf ihr Handy gestarrt und ihre Mailbox abgerufen, aber Aaron ließ nichts von sich hören.
Wollte sie das überhaupt? Was würde sie ihm denn sagen, wenn sie ihn träfe? Dass er ein Arsch sei, ein Idiot, ein dämlicher, krimineller Stalker? Dass sie ihn mochte, dass sie sich nach ihm sehnte, seinen Berührungen, seiner Lust? Nach seinen Händen, die ständig irgendwo auf ihrem Körper waren und sie anfassen wollten?
Kopfschüttelnd starrte sie auf das verschwommene Foto, das er ihr vor Wochen geschickt hatte. Noch war es nicht in den virtuellen Papierkorb gewandert, noch konnte sie es ansehen. Doch sie sah in ihm nicht Marc, den sie in der Schule kennengelernt hatte. Es war ein anderer Mensch, der ihr Vertrauen missbraucht und sie belogen hatte.
Es war, als müsse sie den Verlust von gleich zwei Menschen verkraften - von Aaron, dem Trugbild, dem sie aufgesessen war und dessen Worte in den E-Mails sie so berührt hatten, und von Marc, dessen Sinnlichkeit sie atemlos gemacht hatte. Sie würde darüber hinwegkommen - irgendwann. Sie war schließlich auch über Dave hinweggekommen. Und ein Gutes hatte die ganze Sache schließlich - ihre Unsicherheit, ihre Sorge darüber, im Bett nicht gut genug zu sein, war nicht mehr ihr größtes Problem.
Sie war begehrenswert, und sie konnte sich fallen lassen. Sie hatte einige Tage lang den großartigsten Sex genossen, den sie sich nur vorstellen konnte, und sie war sicher, dass sie das auch mit einem anderen Mann wieder erleben konnte, irgendwann. Eines Tages würde sich der eine finden, der ihren Körper in Flammen versetzte und ihre Knie zittern ließ. So wie Aaron ...
Der Montagmorgen war trüb und verregnet. Sie bekam kaum die Augen auf und zwang sich mühselig aus dem Bett. Auch die nur lauwarme Dusche konnte sie nicht wirklich wecken, dafür hatte sie viel zu wenig geschlafen in den letzten Tagen.
Von wüsten Träumen geplagt hatte sie sich im Bett hin und her gewälzt, von Aaron geträumt, ihn verflucht, ihn angeschrien und geschlagen, dann war sie in seine Arme gefallen und hatte sich tränenüberströmt von ihm küssen lassen. Eine einzige Achterbahnfahrt, die sie jede Stunde schweißgebadet aufwachen ließ.
Zum Teufel mit ihm! Sie musste ihn vergessen, schließlich hatte er sie auch längst vergessen. Kein Anruf, nicht einmal eine E-Mail. Kein Zeichen von Entschuldigung, obwohl sie sicher war, ihm sowieso nicht verzeihen zu können, egal, was er ihr sagen würde. Doch das Fehlen solcher Lebenszeichen nagte an ihr, mehr, als sie sich selbst gegenüber eingestehen wollte.
Karen war besorgt, aber verständnisvoll gewesen. Noch immer hatte sie ihr nicht gebeichtet, was wirklich geschehen war. Sie hatte sich tagelang vergraben und von Schokolade und Rotwein gelebt, bestimmt hatte sie einige Pfund abgenommen. Aber wen störte das?
Sie fühlte sich nicht schlecht in ihrem Leid, das sie nur zum Teil selbst verursacht hatte. Sie fühlte sich nur schlecht bei der Vorstellung, Aaron nie wiederzusehen.
Lilian bürstete ihre Haare nur oberflächlich, putzte die Zähne und schlüpfte in eins der langweiligen, grauen Kostüme, die sie zur Arbeit trug. Der Job würde sie ablenken und ihr helfen, ihn zu vergessen. Zu vergessen, was sie mit ihm erlebt hatte, und doch ließ jede aufblitzende Erinnerung noch immer ihren ganzen Körper in Erregung pochen.
„Zum Teufel damit“, schrie sie wütend ihrem Spiegelbild entgegen und schlug mit der Faust gegen das Glas, das in seinem Rahmen erzitterte. Dann verließ sie die Wohnung und machte sich auf den Weg ins Büro.
Der Bus kam ein paar Minuten zu früh und sie musste hinterherlaufen, um ihn noch zu erwischen. Der Nieselregen kräuselte ihre Haare, aber das nahm sie kaum wahr. Müde ließ sie sich auf einen der hinteren Sitze in dem zur Hälfte gefüllten Bus fallen.
Eine ältere Dame vor ihr drehte sich freundlich lächelnd zu ihr um und nickte, und sie erwiderte den Gruß halbherzig. Dann starrte sie während der Fahrt durch Seattles Vororte aus dem Fenster.
An jeder Haltestelle stiegen neue Passagiere zu, die sich auf den Sitzen verteilten. Und dann ertönte plötzlich der Klang eines Saxophons im Bus.
Lilian sah sich neugierig um und entdeckte einen Mann auf den vorderen Sitzen, der hingebungsvoll spielte und dem Instrument sanfte Töne entlockte. Sie schmunzelte.
Was fü r eine schöne Idee, am frühen Montagmorgen ein kleines Konzert im Shuttlebus durch Seattle zu
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