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Lilienblut

Lilienblut

Titel: Lilienblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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– sie wollte es gar nicht wissen. Als sie an der Silberweide angekommen war und die Zweige auseinanderschob, an denen gefrorener Regen wie Kristallperlen hing, blieb sie einen Moment stehen.
    An dieser Stelle, im Schutz des Baumes, hatte damals jemand gesessen und sie beobachtet. Hatte er auch gesehen, dass zwei in den Wald gegangen waren und nur eine zurückkehrte? Wer war es gewesen und warum hatte er geschwiegen? Das kleine, verharschte Stück Wiese leuchtete im Licht eines frühen Mondes. Die Dämmerung sank herab. Sinnlos, darüber nachzudenken. Jetzt oder nie.
    Sabrina schlenderte, als ob sie alle Zeit der Welt hätte und sie am liebsten in eiskalter Dunkelheit spazieren ging, über die freie Fläche auf den Zaun zu. Bevor sie über den Draht stieg, warf sie noch einmal einen Blick zurück. Sie war allein. Niemand war ihr gefolgt. Sie nahm all ihren Mut zusammen und lief los.
    Die Brennnesseln waren in sich zusammengesunken. Ihre mächtigen Triebe bildeten dort, wo sie umgeknickt waren, bizarre Dreiecke. Die verdorrten Äste des Dornengestrüpps hatten ihre sommerliche Biegsamkeit verloren, sie schlugen in Sabrinas Gesicht wie kleine Peitschen. Sie war froh, die Lederhandschuhe und einen glatten Anorak zu tragen. Strick und Wolle hätten sie gar nicht erst durch dieses Dickicht gelangen lassen, das sich an sie zu kletten schien, sie aufhalten wollte, sich ihr in den Weg stellte, ihr immer wieder wie mit Ruten ins Gesicht schlug. Plötzlich wurde ihr bewusst, was für einen Heidenlärm sie gerade machte. Das Holz knackte unter ihren Füßen, manchmal riss sie ganze Lianen von wilden Brombeerranken aus dem Boden, dazu keuchte sie wie ein Walross. Sie blieb stehen, bis sich ihr Atem wieder beruhigt hatte. Weit konnte es nicht mehr sein.
    Und da sah sie ihn, den toten Fluss . Und auf ihm lag, fast eingeschlossen vom Treibeis und verhüllt vom aufsteigenden
Nebel des Wassers, die Désirée , noch geisterhafter, als sie sie in Erinnerung hatte. Nichts regte sich, kein Rauch, kein Geräusch. Es war totenstill.
    Mit einem Mal verließ sie der Mut. Sie zog die Handschuhe aus und holte mit fast erstarrten Fingern ihr Handy aus der Tasche. Doch als sie es aufklappte und das Licht des Displays sie gelbgrün blendete, besann sie sich anders und steckte es wieder weg. Man würde sie meilenweit sehen können, und genau das wollte sie vermeiden. Langsam und vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen. Das trockene Laub raschelte, während sie die Böschung hinunterkletterte und darum betete, nicht auszurutschen. Das Eis am Ufer war zu dünn, es würde sie nicht tragen. Und wenn man bei dieser Kälte im Rhein landete, half auch kein Rettungsschwimmer mehr.
    Einen Moment lang dachte sie an Lukas. Hätte sie ihm sagen sollen, wohin sie ging? Sie verwarf diesen Gedanken augenblicklich. Spätestens hier hätte er sie an den Haaren von der Werth weggezerrt und so lange die Polizei belagert, bis die Kilian in Handschellen abgeführt hätten. Nein, sie war auf sich selbst gestellt. Sie wollte es wissen, jetzt oder nie.
    Endlich hatte sie das Ufer erreicht. Keine zwei Meter entfernt erhob sich die Außenwand des Kahns. Sie konnte erkennen, dass am Heck jemand die alten Buchstaben übertüncht hatte. Nachlässig und nicht sehr professionell, denn sie schimmerten noch durch die dunkelblaue Farbe, auf der jetzt in großen Lettern Désirée stand. Die verblichenen Lettern waren mehr zu ahnen als zu lesen: Sehnsucht . Sabrinas Magen verkrampfte sich. Sie konnte sehen, wie die weiße Atemluft stoßweise aus ihren Lungen wich, und eine halbe Ewigkeit hatte sie Angst, keine Luft mehr zu bekommen.
    Es war das Totenschiff. Der alte Name war durch einen neuen ersetzt worden, doch der Lastkahn war der gleiche geblieben: Schauplatz eines grausamen Mordes. Und Kilian musste davon gewusst haben.
    Kein Vogel schrie. Kein Blatt fiel vom Baum. Es war, als ob die Zeit in ihrer Grabeskälte stehen geblieben wäre. Er hätte
mich hören müssen, hämmerte es in ihrem Kopf. Vielleicht liegt er schon auf der Lauer und wartet hinter dem nächsten Baum auf mich …
    Plötzlich wurde ihr der Wahnsinn bewusst, der sie hierher getrieben hatte. Und gleichzeitig erfasste sie eine ungeheure Neugier. Vielleicht war er auch einfach nicht da? Auch er musste für die Feiertage einkaufen. Wahrscheinlich trieb er sich gerade unerkannt in Andernach herum, während sie sich hier in der freien Natur fast in die Hosen machte. Das sind nur Bäume, Wasser und ein

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