Lilienblut
Bus konnte sie sich nicht abregen. Sie saß am Fenster, starrte hinaus auf den Rhein, wann immer er ins Blickfeld kam, und warf Beate
stumm sämtliche Schimpfworte an den Kopf, die ihr einfielen. In Leutesdorf fuhr sie bis zur Endhaltestelle und lief hinunter zu Salingers Weingarten, der still und verträumt, wie mit Zuckerguss verziert, Winterschlaf hielt. Die alten Kastanien hatten schon lange keine Blätter mehr. Ein Schwarm Krähen hatte sich in den kahlen Kronen niedergelassen. Mit empörtem Schreien stoben sie auf, als Sabrina durch den kniehohen, unberührten Schnee an die Ufermauer stapfte.
Kilian.
Die Tränen schossen ihr in die Augen. Es gab ihn, er war wieder unterwegs auf dem Rhein, und er hatte nicht angehalten. Das war bitter.
Zwei vergessene Weingläser standen auf der Balustrade. Der Schnee vom Vortag war auch in sie gefallen und hatte sie bis zur Hälfte mit weißem Flaum gefüllt. Vor Sabrina tauchte das Bild eines glücklichen Paares auf, das, ganz in die Romantik dieses Wintergartens versunken, Hand in Hand hier gestanden haben musste. Das war zu viel. Sie nahm ein Glas und warf es an die Steinmauer. Er zersprang mit einem leisen Klirren.
Du blöde Kuh, dachte sie im gleichen Moment. Oben in den Wohnräumen über Salingers Gastwirtschaft bewegte sich eine Gardine. Wahrscheinlich wollte jemand nachsehen, wer denn da im Garten randalierte. Du könntest jederzeit mit Lukas hier stehen. Niemand hindert dich daran. Im Gegenteil: Er wäre von der Idee wahrscheinlich begeistert.
Aber sie wollte nicht mit Lukas hier stehen. Sie wollte etwas anderes. Sie fühlte sich genau so wie an dem heißen Sommertag in Andernach, als Kilian sie angesehen und in Wirklichkeit Amelie gemeint hatte. Übergangen. Ignoriert. Enttäuscht. Wenn Beate wirklich die Désirée gesehen hatte, dann gab es keinen Grund, Kilian auch nur eine Träne nachzuweinen. Denn er war weitergefahren. Einfach so, als hätte es sie und Amelie nie gegeben.
Sie wischte sich über die Augen und machte sich auf den Weg nach Hause. Wenn Beate das Schiff gesehen hatte … Wenn der Richter sich nicht getäuscht hatte … Wenn Lukas
nicht bei den Rettungsschwimmern gewesen war … Ein bisschen viele Wenns, die da zusammenkamen, sobald sie an den schrägen Richter und seine durchgeknallte Enkelin dachte. Vielleicht war Beate genauso konfus wie ihr Großvater? Oder blind? Oder sie hatte einfach nur Spaß daran, ihre Mitmenschen zu verwirren? Vielleicht hatte sie sich getäuscht und es war wirklich nur ein Schiff mit dem dämlichen Namen Dosenöffner gewesen.
Nein. Beate log nicht. Sie musste Kilian vergessen. Und der Tatsache ins Auge sehen, dass es einen Grund hatte, wenn er einfach so an Andernach und der Werth vorüberschlich und verschwand.
Die Werth.
Wie vom Donner gerührt blieb Sabrina stehen. Es gab nur einen Ort, an dem ein Schiff sich verstecken konnte. Langsam drehte sie sich um und warf dem Rheinufer einen letzten Blick zu. Es wurde schon dunkel und die Straßenlampen auf der anderen Seite des Flusses flammten gerade auf. So nah und doch so weit weg. Sie sah auf ihre Armbanduhr. Es war viel zu spät, um jetzt noch hinüberzufahren.
Ihr Entschluss stand fest. Sie würde am nächsten Tag nachsehen, ob sich jemand dort versteckte. Wenn ja, dann würde sie ihn finden und ihm nur eine einzige Frage stellen: Bist du Amelies Mörder?
Sabrinas Wangen waren von der Kälte feuerrot, als sie ins Wohnzimmer kam und von einer swingenden und singenden Franziska empfangen wurde, die Bing Crosbys Weihnachts-CD aufgelegt hatte und einen Stapel Klamotten zu ihrem Koffer auf dem Couchtisch balancierte.
»Ich dachte, du bist nur ein Wochenende weg?«
Vor den beiden Sesseln standen mindestens zehn Paar Schuhe und darauf lagen Franziskas einziges langes Kleid und jede Menge Tücher, Schals, Handtaschen und Blusen. Ihre Mutter legte den Stapel ab und sah sich die vorgezogene Bescherung etwas ratlos an.
»Ja. Stimmt. Aber ich weiß doch nicht, was er vorhat. Vielleicht gehen wir in die Oper oder ins Theater. Oder er lädt mich zum Essen ein. Kann natürlich auch sein, dass wir auf eine Langlaufloipe gehen, dann brauche ich die Skisachen. Vielleicht ist es aber auch ein Wellness-Hotel, dann muss ich den Bademantel und den Bikini einpacken. Und für tagsüber eine Jeans und eine schwarze Hose, einen Blazer, aber für Blusen ist es zu kalt, obwohl, wenn man einen Pullunder drüberzieht?«
»Wohin wollt ihr denn?«
»Keine Ahnung. Er hat eigentlich
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