Lilienblut
ihr gefolgt. Nicht aus Neugier, sondern weil sie sich Sorgen gemacht hatte. Sie hatte sich mutig gegen Kilian gestellt, einen Mann, von dem keiner wusste, wozu er fähig war. Sie erdete Sabrinas Fantasien. Sie beschäftigte sich mit dem, was Sabrina bewegte. Sie hatte eine komische Art, Dinge auf den Punkt zu bringen. Aber sie war jemand, der diese Dinge von ihr wissen wollte, egal, wie absurd sie waren. Amelie hatte sich wenig für das interessiert, was Sabrina gemacht und gedacht hatte.
Wieder meldete sich der Schmerz. Er tat weh wie ein Abschied. War Amelie vielleicht gar nicht die Freundin gewesen, die sie sich immer gewünscht hatte? Sabrina hatte sie bewundert, vergöttert, hatte sich im Glanz dieser flirrenden Wunderfrau wichtig gefühlt, anerkannt und akzeptiert. Sie hatte alles von ihr gewusst. Aber sie war sich nicht mehr sicher, ob es umgekehrt genauso gewesen war. Hatte Amelie einfach nur jemanden gebraucht, der sie ohne Wenn und Aber anhimmelte?
Ohne dass sie es wollte, musste sie weinen. Um nicht aufzufallen, wendete sie ihr Gesicht der Scheibe zu. Die Tränen
liefen ihr über die Wangen und sie wischte sie nicht weg. Eigentlich wusste sie gar nicht, warum sie heulte. Es war einfach so viel zusammengekommen. Das Schlimmste von allem war das, was Kilian zu ihr gesagt hatte. Dass er sie weggeschickt hatte. Dass er es bereute, Amelie nicht mitgenommen zu haben. Und dass er nie wiederkommen würde, nie mehr.
In Neuwied waren die Tränen getrocknet. Sabrina hastete zu einem Kaufhaus in der Fußgängerzone und hatte, bis auf die Rouladennadeln, in einer knappen Viertelstunde alles zusammen. Es war kurz vor Ladenschluss und das Gedränge war mörderisch. Sie beschloss, dass es zur Not auch Zahnstocher tun würden, und setzte sich in Richtung Rheinufer in Bewegung. Sie würde gnadenlos zu spät kommen, aber es war kurz vor Weihnachten. Da war ein geheimnisvolles Verschwinden schon mal erlaubt.
Franziska und Michael waren gerade beim Dessert angekommen.
Ihre Mutter entdeckte sie als Erste in der bis auf den letzten Platz besetzten Gaststube. »Kind, was ist denn passiert?«
Sabrina zog ihre Jacke aus und versuchte, ein erstauntes Gesicht zu machen.
»Du siehst ja schrecklich aus. Völlig durchfroren. Setz dich!«
Sabrina nahm den beiden gegenüber auf der Bank Platz. Sie saß genau dort, wo Beate vor ein paar Tagen gesessen hatte.
»Willst du noch was essen? Wo warst du denn so lange?«
»Einkaufen«, antwortete sie und deutete auf die Plastiktüte, die sie neben sich hingelegt hatte. »Ich bin von Pontius zu Pilatus gerannt.«
»Aber das kriegt man doch alles in der Mittelstraße!«
Michael kratzte den letzten Löffel Mousse au Chocolat aus seiner Glasschale. »Lass doch mal gut sein.«
Sabrina warf ihm einen dankbaren Blick zu. Sie bestellte bei einer vorbeihastenden Kellnerin ein Glas Tee.
»Bleibst du eigentlich Heiligabend?«
»Nein«, antwortete er. »Ich bin bei meiner Mutter. Aber wenn ihr nichts dagegen habt, würde ich vielleicht später noch vorbeischauen.«
»Ich hab nichts dagegen«, antwortete Sabrina schnell. Je mehr die beiden miteinander zu tun hatten, desto besser wurde es.
Franziska sah sie nachdenklich an. »Ist auch wirklich alles in Ordnung mit dir?«
»Aber ja. Frag doch nicht dauernd. Sonst denke ich mir ein paar Katastrophen aus, nur damit du beruhigt bist.«
»Bitte nicht. Ein Glück, dass du mir wenigstens keine Sorgen machst.«
Etwas im Unterton ihrer Mutter machte Sabrina hellhörig. »Du hast Sorgen? Ich meine, ist es das Übliche oder etwas, von dem ich noch nichts weiß?«
»Nicht jetzt«, sagte Franziska. »Jetzt ist Weihnachten.«
Kaum zu Hause angekommen, stürmte Sabrina in ihr Zimmer. Ihre Sehnsucht, mit Amelie zu sprechen, war so groß, dass sie gar nicht erst ihre Jacke auszog, Sie setzte sich aufs Bett und holte das Tagebuch heraus. Dann erst fiel ihr ein, dass sie vielleicht eine bestimmte Frage stellen sollte, wenn sie schon eine Antwort haben wollte.
Warum ist Kilian zurückgekehrt?
Was verbindet ihn mit diesem schrecklichen Zimmer auf der Désirée ?
Was, und das war die schwerste Frage, ist da gelaufen zwischen euch?
… Ich will ihm folgen in den dunklen Garten seiner Seele. Ich will ihn so sehr, denn er ist wie ich. Niemand kann das verstehen, auch Sabrina nicht. Sie begreift nicht, wie peinlich und kindisch sie ist …
Ganz langsam klappte sie das Tagebuch zu. Sie fühlte sich, als hätte ihr jemand eine schallende Ohrfeige
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