Lilienblut
nachfragen würden, oder?«
Franziska blähte die Nasenflügel und stieß einen schnaubenden Laut aus. »Sie glauben doch nicht etwa, dass meine Tochter etwas mit dem Tod dieses Mannes zu tun hat? Ihm ihren Geldbeutel gibt und ihn anschließend ins Wasser schubst?«
»Frau Doberstein, Ihre Tochter ist sechzehn. Wir können Sie auch getrennt voneinander befragen. Aber da wir Sie beide jetzt so schön beisammen haben, sagen Sie uns doch, wie Sie den heutigen Tag verbracht haben.«
»Wie man ihn an Heiligabend so verbringt«, erwiderte Franziska. »Mit letzten Vorbereitungen zum Fest, essen, Bescherung, Messe, Geschenke auspacken.«
»Sie waren die ganze Zeit zusammen? Richtiges Familienleben halt?«
»Ja.«
»Und wie war das am Samstag?«
Etwas verwirrt sahen sich Mutter und Tochter an. Dann fiel Franziska ein, was sie an diesem Tag gemacht hatten. »Meine Tochter hat ihr Zimmer aufgeräumt und ich habe die letzten Rechnungen geschrieben.«
»Sie waren also den ganzen Tag zu Hause?«
»Nein. Wir waren noch einkaufen.«
»In Andernach?«
»Nein! In Neuwied natürlich. Dahin sind wir gefahren.«
»Mit dem Bus?«
»Dem Auto. Hören Sie, was soll das? Warum wollen Sie wissen, was wir vor zwei Tagen gemacht haben? Wir sind mit Sicherheit nicht losgezogen und haben jemanden umgebracht. Wir sind müde. Hat das nicht alles bis morgen Zeit?«
Frau Fassbinder seufzte und warf einen Blick auf die große Wanduhr. Man konnte ihr ansehen, dass sie jetzt auch lieber zu Hause im Warmen gesessen hätte. »Leider nein.« Sie nahm eine zweite, wesentlich kleinere Tüte und hielt sie Franziska vor die Nase. Als Sabrina erkannte, was in ihr war, rutschte ihr das Herz in die Hose. »Das ist ein Busfahrschein. Vom 22. Dezember. Neuwied – Andernach, fünfzehn Uhr zwölf gestempelt. Der Todeszeitpunkt von Herrn Wennigstedt liegt im Moment zwischen fünfzehn und zwanzig Uhr. Gehen wir mal davon aus, dass jemand, der im Bus einen Fahrschein kauft, ihn auch benutzt. Und nehmen wir außerdem an, dass benutzte Busfahrscheine nur selten an andere weitergegeben werden. Dann sind Sie, Sabrina Doberstein, vor zwei Tagen in Andernach gewesen und könnten Herrn Wennigstedt theoretisch begegnet sein.« Frau Fassbinder legte die Tüte mit einem strengen Blick auf ihr Gegenüber wieder zu den Akten.
Sabrina hielt die Luft an. Das war nicht schlimm, das war katastrophal.
Genau diesen Gedanken schien ihre Mutter auch zu haben. »Könntest du mir erklären, was das zu bedeuten hat?«, fragte sie leise.
Sabrina wäre es lieber gewesen, wenn sie geschrien hätte. Eine leise Franziska in dieser Situation war nach einem verräterischen Busticket so ziemlich das Zweitschlimmste.
Herr Tuch war nun endlich am obersten Knopf seiner Jacke angekommen. Er beugte sich vor, um Sabrinas Antwort besser zu verstehen.
»Ich war nicht in der Mittelstraße«, flüsterte sie.
»Bitte?«, fragte Frau Fassbinder. »Ich kann sie nicht verstehen.«
Sabrina räusperte sich. »Ich war nicht in der Mittelstraße. Also, ich bin erst später einkaufen gegangen. Ich habe mich vorher noch mit Beate getroffen. Deshalb bin ich nach Andernach gefahren. Meine Mutter wusste das nicht. Wir hatten uns getrennt, um schneller mit dem Einkaufen fertig zu sein.«
»Beate wer?
»Beate Seiters, die Enkelin von Richter Gramann.«
Frau Fassbinder und Herr Tuch wechselten einen Blick. Offenbar hatte der Richter auch bei den nachfolgenden Generationen einen Ruf wie Donnerhall.
»Am Alten Krahnen?« Die Kriminalkommissarin notierte sich den Namen. »Was habt ihr da gemacht?«
Sabrina senkte den Kopf. Mit etwas gutem Willen konnte man das als Zustimmung und bedingungslose Kapitulation deuten. Herr Tuch gab einem der beiden Polizisten an der Tür einen Wink. Der stand auf und verließ den Raum.
»Nichts.« Sabrina betrachtete ihre Schuhspitzen. Ein bisschen roter Dreck klebte noch daran. Wahrscheinlich musste sie sie jetzt ausziehen. Ihre ganzen Klamotten würden kriminaltechnisch untersucht. Sie würde Gefängniskleidung bekommen und die Nacht in der Zelle verbringen müssen. Sie wagte nicht, den Kopf zu heben.
Franziska saß neben ihr, wie zur Salzsäule erstarrt.
»Wart ihr allein?«
Sabrina hörte, wie ihre Mutter scharf einatmete. Es war furchtbar, das alles ausgerechnet vor ihren Ohren zuzugeben. Dass sie sie belogen hatte, während sie zum ersten Mal seit langer Zeit endlich wieder für ein paar Stunden glücklich schien. Sie presste die Lippen aufeinander und schwieg.
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