Lilienblut
zumindest keine konkreten Zukunftsperspektiven.
»Ich weiß«, antwortete Sabrina. »Aber bis es so weit ist, muss ich entweder weiter zur Schule gehen oder eine Ausbildung machen.«
Das schnaubende Geräusch aus Amelies Nasenlöchern verriet, was sie von diesen Alternativen hielt. »Bei deiner Mutter. Als Weinbauerin. Na gute Nacht.«
Sie hatten endlos diskutiert. Sabrina wusste, dass sie sich bis Ende der Ferien entscheiden musste. Eine Lehre bei einem anderen Winzer kam gar nicht in Frage. Das ging gegen die Familienehre. »Man kehrt keinen fremden Hof«, hatte ihre Mutter kategorisch erklärt. Ausgebildet wurde im eigenen Betrieb. Natürlich gab es Ausnahmen: Söhne und Töchter, die Önologie studierten und dann in Kalifornien oder Südafrika landeten, in goldenen Tälern, weit weg vom Mittelrhein mit seinen hohen Bergen, die schon am Nachmittag lange Schatten über das Tal und den Fluss warfen.
Doch Sabrinas Schulleistungen waren nicht so, dass sie ein Studium unbedingt nahelegten. Dabei wusste sie genau, dass sie viel mehr schaffen konnte. Aber in den letzten zwei Jahren hatte sie die Lust verloren, sich anzustrengen. Wenn es nichts gab, was man sich erkämpfen musste, wenn der Lebensweg bereits vorgezeichnet war, noch ehe man überhaupt angefangen
hatte, darauf Fuß zu fassen – wofür lohnte es sich dann, sich Mühe zu geben? Die Einzige, mit der sie darüber reden konnte, war Amelie. Vielleicht wurde die deshalb so von ihrer Mutter abgelehnt. Franziska Doberstein mochte Amelie Bogner nicht. Viele Leute mochten »das Fräulein Bogner« nicht. Allein schon die Art, wie sie »Fräulein« aussprachen, sagte alles. Sabrina war das egal. Amelie war ihre Freundin, seit sie durch Zufall vor zwei Jahren auf dem Neuwieder Weinfest gemeinsam eine Geisterbahn-Gondel bestiegen hatten. Anschließend bekamen sie lebenslanges Mitfahrverbot. Diese Verrückte war während der Fahrt ausgestiegen und hatte eine Gruppe betrunkener Bayern und zwei Sechstklässler zu Tode erschreckt. Sabrina hatte noch nie in ihrem Leben so viel Spaß auf einem Weinfest gehabt, und das ganz ohne Wein.
»Was soll ich denn jetzt machen?« Sie stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. »Sie hat den Rosenberg für dreißig Jahre gepachtet. Bis dahin bin ich doch scheintot!«
»Das bist du jetzt schon, wenn du so weitermachst.« Amelie setzte sich auf und holte die Sonnenmilch aus ihrer Strandtasche. »Lebe deine Träume! Aber dazu musst du natürlich erst mal welche haben.« Sie rieb sich die Arme und Schultern ein und achtete dabei darauf, dass die Jungs drei Badetücher weiter auch jede ihrer Bewegungen mitbekamen. »Ich habe Ziele. Ich arbeite dafür. Scheiß was auf die Schule. Ich will die Welt sehen! Wenn die Saison vorbei ist, habe ich fast zweitausend Euro auf der hohen Kante. Dann hält mich hier nichts mehr.«
Sabrina seufzte wieder. Ihre Mutter würde nie erlauben, dass sie arbeiten ging. Schon gar nicht in solchen Gelegenheitsjobs, wie Amelie sie hatte.
»Komm mit!«
Die tiefbraunen Augen ihrer Freundin glitzerten vor Abenteuerlust. Doch anders als so viele Male zuvor hatte Sabrina keine Lust, sich von ihr anstecken zu lassen. Ihr Leben kam ihr, verglichen mit dem, das Amelie führte, plötzlich unendlich schwer vor. Es war einfach, allem den Rücken zu kehren, wenn man nichts hatte, für das man sich verantwortlich fühlte.
Wieder spürte Sabrina, dass der Ärger sich in ihr zusammenballte. Ein eigener Weinberg. Noch eine Last, noch eine Verantwortung, die man ihr aufgebürdet hatte, ohne dass man sie überhaupt gefragt hatte. Ich habe das alles nicht mehr ertragen. Ich wusste nicht, was es heißt, eine Winzerin zu heiraten. Das war die Antwort, die ihr Vater ihr vor langer Zeit einmal gegeben hatte, als sie ihn nach den Gründen für sein Weggehen gefragt hatte. Damals konnte sie ihn nicht verstehen und hatte Schuldgefühle, weil sie sich als Teil des Unerträglichen gefühlt hatte. In letzter Zeit telefonierten sie wieder öfter miteinander. Er lebte jetzt in Berlin und war Direktor an einer Gesamtschule. Ihr Halbbruder war mittlerweile fünf.
»Hast du mir nicht zugehört?«
Amelies Frage schreckte sie hoch.
»Pack deine Sachen und komm mit. Wir finden schon einen Job. In zwei Tagen sind wir in Rotterdam. Dann nehmen wir uns ein Schiff nach Buenos Aires. Und dann …«
»Hi Lilly!«
Drei alberne Spätpubertierer schlenderten an Amelies und Sabrinas Badetuch vorbei. Der mittlere blieb kurz stehen. Die beiden anderen
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