Lilienblut
wie ein Vorhang von Perlenschnüren.
Die kleine Liegewiese war an diesem Vormittag schon ziemlich voll. Seit man im Rhein wieder schwimmen konnte – auch wenn das gefährlich war und gar nicht gern gesehen wurde -, waren die Krippen im Sommer zu einem beliebten Treffpunkt geworden. Sabrina entdeckte Amelie auf einem bunten Badetuch gleich vorne in der ersten Reihe. Ihre Freundin schaute verträumt auf den Fluss, wo gerade ein über hundert Meter langes Containerschiff hoch Richtung Duisburg oder Rotterdam fuhr.
Shipspotting , nannte Amelie das. Im letzten Jahr hatte sie ein Schiffer mitgenommen. Nach drei Tagen war sie wieder da gewesen, doch von der Reise zehrte sie noch heute.
»Hi!« Sabrina ließ sich neben sie auf das Tuch fallen. In der Mitte prangte ein großes Hanfblatt. Obwohl Amelie noch nicht einmal rauchte, ließ sie keine Gelegenheit aus, die Umwelt ein wenig zu provozieren.
Ihre Freundin strahlte sie an. »Happy birthday, meine Kleine!«
»Moment, ich bin jetzt sechzehn!«
»Einmal Küken, immer Küken.«
Amelie rückte zur Seite und deutete auf das Schiff. »Das ist die Maxima. Siehst du die niederländische Flagge? Sie ist eine der wenigen, die die ganze Strecke bis runter zum Schwarzen Meer schafft.«
Sie winkte, doch der Schiffer auf dem Stand war zu weit weg und fuhr unbeirrt weiter. Es war Amelies Traum, eines Tages um die ganze Welt zu reisen. Immer wenn das Fernweh mit ihr durchging, spürte Sabrina einen kleinen Stich im Herzen. Sie hatte das Gefühl, ihre Freundin dann für immer zu verlieren. Amelie war zwar in Andernach geboren, doch sie kam Sabrina vor wie ein Gast auf Durchreise, der immer auf gepackten Koffern saß; bereit, auf und davon zu gehen, sobald sich die Gelegenheit bot. Amelie redete sehr häufig vom Weggehen. Sie hatte keinen Plan, und ihre Ziele wechselten ständig; vielleicht war die Sprunghaftigkeit ihrer Ideen der Grund, weshalb sie immer noch nicht fortgegangen war. Mit
ihren knapp achtzehn Jahren sah sie wesentlich älter aus. Das lag nicht nur an ihrer Figur, sondern vor allem an dem leicht spöttischen Zug um ihre vollen Lippen, der mehr Lebenserfahrung versprach, als Amelie eigentlich haben konnte. Sie hatte ein schmales Gesicht mit hohen Wangenknochen und braune Augen, denen ihr geschicktes Make-up etwas Katzenhaftes verlieh. Auch heute drehten sich alle jungen Männer nach der dunkelhaarigen Schönheit in ihrem knappen Bikini um. Und Amelie gab ihnen auch einiges zum Hinsehen, als sie sich auf dem Laken ausstreckte und ihr Oberteil zurechtrückte. Sabrina kam sich neben ihr blass und unscheinbar vor.
»Sorry, ich hab kein Geschenk für dich. Ich geb dir ein Eis aus, ja? Kommst du nachher?«
Amelie hatte einen der begehrten Ferienjobs in einem Eiscafé am Marktplatz ergattert. Der Besitzer wusste, was er tat, denn seit Amelie dort arbeitete, hatte sich der Umsatz verdoppelt. Auch wenn ihre Freundin über die Arbeit stöhnte, sie hatte doch Spaß daran, unter Menschen zu sein und ab und zu ein bisschen zu flirten. Jetzt aber versteckte sie ihre Augen hinter einer großen, schwarzen Sonnenbrille. Nur wer sie so gut kannte wie Sabrina, hörte auch an ihrer Stimme, dass etwas nicht stimmte.
»Klar komme ich. Einen Nougatbecher aufs Haus lasse ich mir nicht entgehen.«
Sabrina sah sich um. Ein paar Gesichter kannte sie aus der Schule, eine Großfamilie weiter unten Richtung Werth und zwei ältere Damen waren Kunden ihrer Mutter. Anders als die großen Betriebe lebten die Dobersteins nicht von Lieferungen an Supermärkte, sondern von kleinen Weinhandlungen, Gastronomen und Privatleuten, die gerne persönlich vorbeischauten. Sabrina nickte ihnen zu und grüßte freundlich, als sie in ihre Richtung sahen.
Amelie bemerkte das und grinste. »Bist du wieder ein braves Mädchen, das seiner Mutter keine Schande macht?«
»Lass mich in Ruhe mit meiner Mutter.«
»Oh-oh. Das hört sich nicht nach einem relaxten Morgen an.«
»Sie hat mir einen Weinberg geschenkt.«
Amelie schob die Sonnenbrille hoch in ihre pechschwarzen, glänzenden Locken, um die Sabrina sie glühend beneidete. Auf den mitleidigen Blick aus Amelies Augen hätte sie aber gerne verzichtet. »Ein Weinberg? Was ist das denn? Hast du ihr nicht gesagt, dass du mit dem ganzen Krempel nichts am Hut hast? Wir wollten doch irgendwann gemeinsam nach Argentinien!«
Argentinien, New York, Australien, Malaysia. Immer mal wieder hatten sie geträumt, auszuwandern. Aber mehr als Träume waren das auch nicht,
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