Lilienblut
so alt bin ich nun auch wieder nicht, dass ich die Hoffnung endgültig aufgeben müsste. Oder?«
Da war er wieder, der kleine, verbitterte Zug um Franziskas Mundwinkel. Es war genau diese Regung, die den Ärger in Sabrina augenblicklich verpuffen ließ und in ihr nur den einzigen Wunsch weckte, ihre Mutter in den Arm zu nehmen. Franziska war nicht alt. Sie war nur ziemlich allein.
»Wo hast du ihn denn kennengelernt?«
»Im Internet.«
Auch das noch. Da wurde man täglich vor den Gefahren dieses virtuellen Monsters eindringlich gewarnt: Chatte nie mit Fremden! Suche dir deine Freunde im echten Leben! Verbringe deine Zeit mit etwas Nützlichem! Und dann erfuhr man von seiner eigenen Mutter, dass die sich ihre Lover am Computer aussuchte.
Franziska Doberstein musste die Missbilligung in der Luft gespürt haben. Sie versuchte ein entschuldigendes Lächeln. »Ich habe ja sonst keine Gelegenheit.«
Das war natürlich glatt gelogen. Fast an jedem Wochenende war ihre Mutter auf einem anderen Winzerfest. Natürlich mit ihrem Weinstand, Dobersteins Grauburgunder Mittelrhein, Steillage. Seit 1651 in Familienbesitz. Aber wenn sie spät abends zurückkam, leuchteten ihre Augen nicht wie an diesem Morgen. Dann war sie meistens müde, setzte sich mit sorgenvollem Gesicht über die Bestellungen, kalkulierte und rechnete, bis sie fast über den Büchern eingeschlafen war. Im Grunde genommen war nicht nur ihr Vater gegangen. Er hatte Sabrina auch die Mutter genommen.
»Ist er nett?« Sabrina pustete und trank einen weiteren Schluck.
Ihre Mutter dachte nach. »Ich glaube, ja.«
»Weißt du sonst noch was über ihn?«
»Wird das jetzt ein Verhör? Ich dachte, du willst etwas ganz anderes wissen. Wo dein Geburtstagsgeschenk ist, zum Beispiel.«
»Wo ist es denn?«
Ihre Mutter stellte die Tasse ab. »Zieh dich an und komm mit raus. Dann zeige ich es dir.«
So schnell war Sabrina selten fertig gewesen. Sie hielt sich nicht lange mit Föhnen auf, schlüpfte nur in ihre Jeans und ein knappes T-Shirt und folgte ihrer Mutter auf den Hof. Franziska Doberstein hatte die Zeit genutzt und sich ebenfalls geduscht und angezogen. Sie trug das Gleiche wie immer: ein hochgekrempeltes Hemd, eine ausgeblichene Latzhose und leichte Turnschuhe. Normalerweise wäre Sabrina auch in die Arbeitskluft gestiegen. Aber heute hatte sie frei und gute Chancen, den ganzen Tag in Krippe 8 zu verbringen, der Sandbucht am anderen Ufer des Rheins, wo sich alle trafen.
Die schmale Straße führte steil bergauf. An dieser Stelle des Flusses rückten die Berge so nahe an das Ufer heran, dass kaum Platz blieb für mehr als zwei bis drei Häuserreihen hintereinander. Die Bahnschienen lagen fast in den Vorgärten. Was Leutesdorf nicht an Breite schaffte, glich es durch Länge wieder aus. Sabrina hatte des Öfteren überlegt, es als »längstes Dorf Deutschlands« vorzuschlagen. Man lebte wirklich in einem winzigen Nest, aber wenn man vom Bäcker auf der einen zum Supermarkt auf der anderen Seite musste, hatte man eine ordentliche Strecke zu bewältigen. Dafür war man schnell im Weinberg, der lag fast direkt hinter dem Haus. Sabrina und Franziska brauchten keine drei Minuten für den kurzen Aufstieg bis zum Ende des Weges, der in eine kiesbestreute schmale Straße mündete.
Sie führte an Hängen entlang, die große Namen trugen: Salinger, Ebeling, Kreutzfelder. Die Rieslingkönige. Uralte Dynastien großer Gewächse. Und schließlich, ganz am Ende der bewirtschafteten Steilhänge, Doberstein. Vom Rhein aus betrachtet war ihr Hang der letzte auf der rechten Seite. Dahinter begannen die aufgegebenen Weinberge, verwilderte Stöcke, bröckelnde Terrassen. Genau an dieser Stelle blieb Franziska stehen. Mit einem stolzen Lächeln drehte sie sich zu ihrer Tochter um.
Sabrina bekam ein mulmiges Gefühl im Magen. Sie konnte doch nicht … Das würde sie niemals tun!
Aber Franziska griff in die Tasche ihrer Latzhose und holte
ein Schreiben hervor, das sie Sabrina entgegenhielt. »Herzlichen Glückwunsch. Frag mich nicht, was mich das gekostet hat.«
Bei dieser Feststellung ging es nicht um Geld. Seit ewigen Zeiten schwelte ein Streit um den aufgegebenen Steilhang. Martin Kreutzfelder, einer der reichen Bimsbarone aus Andernach und ganz nebenbei auch noch der Besitzer eines der renommiertesten Weingüter der Gegend, hatte sich diesen Hang in den Kopf gesetzt. Genauso lange schon versuchte Franziska Doberstein, den Berg zu bekommen. Er lag direkt neben ihrem
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