Lilienrupfer
Harztropfen hinter meiner Stirn hängen: Vergiftet?
Liebe Grüße, wie immer
Undine
***
In seinen ›Stadtgeschichten‹ lässt Armistead Maupin seine Heldin Mona einmal sagen, man könne nie alles auf einmal haben. Einen guten Job, eine schöne Wohnung und einen hinreißenden Mann.
Ich war immer geneigt gewesen, ihm zuzustimmen, doch plötzlich begann ich zu glauben, es ginge doch. Meine Wohnung war zweifellos von jeher schön, die Proben verliefen weiterhin reibungslos. Weder verstreute jemand Nägel auf dem Bühnenboden, noch lockerte irgendwer Scheinwerferkabel, noch schlief der Hauptdarsteller mit den Frauen der Kollegen. Und Franz war auch nicht in Ohnmacht gefallen. Er neigte dazu, wenn er sich zu sehr aufregte. Zuletzt war es ihm während der Proben von ›LaVie Parisienne‹ in Stockholm wegen einer widerspenstigen Sopranistin passiert.
Was den hinreißenden Mann anging – ich musste momentan unter einem Glücksstern stehen, so gut wie alles lief. Ich saß nicht da und wartete auf Anrufe, die nicht kamen. Ich quälte keine meiner Freundinnen mit langen Episteln über das unverständliche Verhalten eines Mannes. Ich legte keine Karten und stürzte mich morgens nicht als Erstes auf mein Horoskop. Ich war einfach von dem selbstverständlichen Wissen erfüllt, dass alles, so wie es geschah, gut und richtig war.
Ich war sogar so durchdrungen von Selbstvertrauen und Zufriedenheit, dass ich Fabian eine E-Mail schrieb und erklärte, warum ich weitere Treffen ausschlösse. Vor lauter Glück kannte mein Erfindungsreichtum und mein Einfühlungsvermögen keine Grenzen. Das Haar erwähnte ich mit keinem Wort.
Danach teilte ich Richard mit, es wäre mir ein wahres Vergnügen, ihn in die östlichen Gefilde der Andromedagalaxie zu befördern oder zumindest zurück nach Boston. Je nachdem wie viel Zeit er bräuchte, um sich mit dem Unterschied zwischen Ehrlichkeit und Takt zu beschäftigen, da er die Bedeutung beider offensichtlich nicht kenne oder einfach nicht begriffen habe.
Ansonsten regnete es Endorphine. Mein Bedürfnis, gut zu sein, freundlich, liebevoll, war enorm. Mein morgendliches »Hallo« in der Bäckerei erinnerte an ein Händel’sches Halleluja, und in der U-Bahn bot ich anderen Fahrgästen meinen Sitzplatz an. In der Reinigung widerstand ich der Versuchung, der Blondine mit dem Pekinesengesicht in eben dieses zu boxen, als sie wieder einmalstarrsinnig behauptete, in meiner Wohnung wüte irgendwelches Ungeziefer, das sei meinem Strickjäckchen deutlich anzusehen.
Nur dass Till sich nicht mehr bei mir meldete, ließ mich hin und wieder die Stirn runzeln. Ich hatte dreimal auf seinen Anrufbeantworter gesprochen und um Rückruf gebeten, aber er hatte nicht darauf reagiert. Es war seltsam und ich fand keine Erklärung dafür. Andererseits wollte ich nicht mehr hören, wie dick ich doch geworden war, und verwarf den Gedanken, bei ihm vorbeizufahren.
Julia überraschte mich eines Abends im Theater. Ich hatte gerade in der Metzgerei um die Ecke belegte Brötchen für alle besorgt, als ich sie im Foyer traf, wo sie mit Franz an der Theke stand, Sekt trank und so einträchtig mit ihm plauderte, als seien sie alte Bekannte.
»Undine«, Franz drehte sich zu mir um, inspizierte mit Eifer die Tüten und bot Julia eine der Semmeln an. »Da bist du ja endlich. Du hast Besuch.«
»Für den du ja bereits bestens sorgst.«
»Ich habe Herrn Romer gerade erzählt, dass ich vor Jahren seine ›Lola Blau‹ gesehen habe und ganz begeistert davon war.« Julia lachte und bekam einen roten Kopf.
»Deine Freundin fand Simonetta als Lola unglaublich gut«, warf Franz ein und sah dabei vorwurfsvoll aus. Wie es schien, hatte er vergessen, dass auch
er
Simonetta damals »unglaublich gut« gefunden hatte, bis sie vor aller Augen ein Techtelmechtel mit Maria, der Abendspielleiterin begonnen hatte, die Franz noch einen Hauch unglaublicher vorgekommen war. Ich fand, es war nicht der Augenblick, ihn daran zu erinnern, und antwortete sanft: »Aber sie war es doch auch.«
»Unter meiner Regie«, knurrte Franz. Im selben Augenblick klang von der Bühne ein ohrenbetäubender Knall und gleich darauf ein Schrei. »Was zum Teufel war das?« Franz fuhr herum und stieß mit Sonja zusammen, die bleich wie ein Kieselstein vor uns stand.
»Das Fahrrad«, stammelte sie, »das fliegende Fahrrad … irgendwie haben sich die Aufhängungen gelockert und es ist heruntergestürzt.«
»Saß jemand drauf?« Franz fixierte sie aus
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