Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lilienrupfer

Lilienrupfer

Titel: Lilienrupfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Velden
Vom Netzwerk:
Schauspieler, Assistenten, Dramaturgen, Beleuchter und Bühnenbildner – mit einem Mal all ihr Können, ihre Bedeutung, ihre Ideen in Frage stellten, wo alle von dem heißen Wunsch besessen waren, noch einmal von vorn anzufangen, weil sie alle plötzlich glaubten, nicht gut genug zu sein. Später glitt und schwebte man durch die Premiere, gehüllt in einen unsichtbaren Kokon, blind und taub für alles von außen, bis am Ende Jubel und Applaus das dünne Gespinst zerrissen und einen ganz und gar mit Ausgelassenheit und Erleichterung erfüllten. Blieben Jubelund Applaus jedoch aus, dann verdichtete sich der Kokon, zog sich fester zu, und Resignation und Angst übernahmen das Zepter.
    Christian saß neben mir und hielt meine Hand, die vor Nervosität schwach zuckte. Der Samtvorhang war noch geschlossen, aber als er sich zu Mendelssohn Bartholdys ›Sommernachtstraum‹ ganz allmählich öffnete, die Bühne in Gold und Grün erstrahlte und Milan zum tanzenden Faun erwachte, war es fühlbar, wie alle im Raum die Luft anhielten. Christians Hand legte sich fester um meine, und obwohl ich die Inszenierung seit Wochen hatte entstehen sehen, zog sie mich jetzt in ihren Bann, als sähe ich jede Szene zum ersten Mal.
    Ich konnte mich selbst sehen, wie ich mit weit geöffneten Augen und angespanntem Rücken jede Bewegung, jedes Wort aufsog. Es war ein wildes, herzklopfendes Gefühl von Glück, das mich erfüllte, die Erkenntnis, dass meine Arbeit ein Teil dieses Traums war und ich dazugehörte. Als der Vorhang zweieinhalb Stunden später fiel und ich strahlend klatschte, wusste ich, dass es ein Riesenerfolg werden würde, egal, was die Kritiker schrieben. Ich glaubte an die Bereitschaft des Publikums, sich diesem Zauber hinzugeben.
    ***
    Drei Stunden später stand ich mit Christian draußen auf der Straße und glaubte, mein Körper sei zu klein, um so viel Jubel und Entzücken auszuhalten. Wie oft kommt es schon vor, dass einfach alles stimmt? Dass, egal, wohin man blickt, die Dinge sonnenblumengelb schienen und man am liebsten alte Schlager singen würde? Meistens istman ja schon zufrieden, wenn man sagen kann: Das Leben ist ein langer ruhiger Fluss. Wobei man auch da noch vorsichtig über die Schulter äugt und nach sich kräuselnden Wellen Ausschau hält, nach Wasser, das kalt und schlammbraun über die Ufer tritt, nach Stromschnellen und Strudeln, die einen in eine Richtung reißen, in die man nicht will.
    Ich weiß nicht, ob Christian in diesem Moment fühlte, dass der Fluss heute warm war, sein Ufer blumenbewachsen und dass auf seinen Wellen Sonnenfunken tanzten, aber das Lächeln, mit dem er mich ansah, war zärtlich, fragend und belustigt zugleich.
    Ich schmiegte mich an ihn und ließ mich von ihm küssen. Seine Zunge glitt warm und langsam durch meinen Mund, sie passte sehr gut dorthin und verstand sich mit meiner unverschämt gut. Ich hörte, wie die Straßenbahn an uns vorüberratterte, ein Passant hustete neben mir und ein paar Fußballfans schwankten grölend die Straße hinunter in Richtung Hofbräuhaus. Ich nahm alles nur gedämpft wahr, wie an einem Wintermorgen, wenn die dämmende Wirkung frisch gefallenen Schnees den Rest der Welt aussperrt. Ich überließ mich Christians Mund, seinen Händen, die meinen Rücken streichelten und mich fester an sich zogen. Irgendwann öffnete ich die Augen und flüsterte: »Lass uns gehen. Ich will endlich mit dir schlafen.«
    »Einverstanden.« Er lächelte und seine Augen funkelten.
    ***
    Datum: 29.   Mai 2007 7.47   Uhr
    Von: [email protected]
    An: [email protected]
    Betreff: ☺☺☺
     
     
    Robbie dearest,
     
    I am very happy.
    Christian and me shared an enchanting time last night.
     
    Undine
    ***
    Es war das erste Mal, dass ich eine dieser E-Mails in Englisch schrieb. Obwohl ich doch die ganze Zeit wusste, dass der Empfänger kein Deutsch verstand. Ich hatte es nicht absichtlich getan. Es war einfach so geschehen. Vielleicht weil sich manches besser in einer fremden Sprache sagen ließ. Es klang nicht so bedeutungsvoll und verschaffte Abstand. Und vielleicht war die Nachricht deshalb auch so kurz.
    Verschweigen wollte ich die letzte Nacht aber auch nicht, denn mein »Lieber Robbie« hatte alles von Anfang an miterlebt und das Recht auf eine Fortsetzung der Geschichte. Andererseits widerstrebt es mir, einem Mann mein Liebesleben im Detail zu schildern. Nicht aus Scham, sondern weil ich in dieser Hinsicht ein Geheimnis bleiben möchte. Ich mag diese Art Frauen nicht,

Weitere Kostenlose Bücher