Lilienrupfer
nicht gerechnet:
Auf einem riesigen schmiedeeisernen Bett, zwischen zerwühlten weißen Kissen, kniete Julia splitterfasernacktauf ihren Fersen, die Hände auf den Oberschenkeln und ihren Blick in andächtiger Konzentration auf ihr Gegenüber gerichtet, dessen Anblick mir die Sprache verschlug.
Da saß in all seiner hellhäutigen Fülle und ebenso splitterfasernackt, die Brille auf der Nasenspitze, ein Blatt Papier in der Hand, mein alter Freund Franz, der, nachdem er mich entdeckt hatte, seinen Vortrag mit einem gurgelnden Laut unterbrach. Es war grotesk, wie wir sprachlos vor Schreck unsere entgeisterten Blicke von einem zum anderen schickten, doch schließlich erfasste Franz als Erster die Komik der Situation und platzte so dröhnend mit dem Lachen heraus, wie er vorher gesungen hatte.
Als wir gegen halb acht bei Salcice in Tomatensoße und einem Rosso di Montepulciano auf der Terrasse saßen, hatten wir unser Nachmittagserlebnis noch immer nicht ganz verdaut. Irgendeiner von uns dreien prustete immer wieder unvermittelt los und die anderen beiden fielen in das Gelächter ein, bis uns allen die Tränen kamen.
»Warum habt ihr mir eigentlich nichts von eurer … nun ja …«, fragte ich irgendwann und stockte, weil ich nicht genau weiter wusste.
»… Liaison«, half Julia aus.
»Ehm …, ja, Liaison … Also, warum habt ihr nichts davon gesagt.«
Franz schwieg und riss kleine Fetzen von seiner Papierserviette ab, die er zu Kügelchen formte. Es war wieder Julia, die das Wort ergriff.
»Nicht, dass wir dich ausschließen wollten, glaub das bitte nicht. Ich kann es auch nicht so genau erklären – ich denke, wir haben aus einer gewissen Vorsicht heraus geschwiegen.Wir wollten erst einmal sehen, was daraus wird, bevor wir die Welt daran teilhaben lassen, nicht, Franz?«
»Was daraus geworden ist«, unterbrach ich sie und trank einen Schluck Wein, »konnte man ja sehen. Dieser Mann sitzt nackt in deinem Bett und singt.«
»Ich habe die ›Perichole‹ umgetextet.« Franz blieb ungerührt. »Das alte Libretto ist inzwischen total verstaubt und ich wollte, dass Julia sich meine Version einmal anhört. Du weißt ja, Mitte September ist Premiere in Kiel.«
»Na, das erklärt natürlich alles«, antwortete ich ebenso ernst, bevor wir uns anblickten und wieder herausplatzten.
Als wir uns beruhigt hatten, sagte Julia: »Gut, jetzt weißt du Bescheid, aber was ist mit dir und Christian? Franz hat schon etwas angedeutet – es klang nicht gut …«
Ich war froh, dass sie mir das Stichwort gab. »Lilienrupfer«, begann ich, »trifft es im Kern. Ich hätte keinen besseren Namen für ihn finden können.« Ich schwieg einen Moment, bevor ich die Geschichte bis zu der Begegnung in dem Schwabinger Café erzählte.
»Vergiss das Arschloch schleunigst«, kommentierte Franz meine Worte rigoros, während Julia nach einer kleinen Weile lediglich sagte: »Ich glaube ihm nicht, dass er nicht verliebt in dich ist. Ich glaube eher, das Gegenteil ist der Fall. Er ist es zu sehr.«
»Ja dann – das ist natürlich ein guter Grund, um jemanden zu verlassen«, antwortete ich bitter.
»Mit Sarkasmus kommst du nicht weiter. Denk doch mal an Christians Geschichte mit dieser Susanne. Er hat selbst gesagt, er habe es nicht ausgehalten, so viel für sie zu empfinden. Es hat ihm Angst gemacht. Weshalb sollte es ihm mit dir nicht genauso gehen? Sein ganzes Verhalten spricht doch dafür, findest du nicht?«
»Ich weiß nicht. Und selbst wenn es so wäre, fiele es mir schwer, es zu verstehen. Weshalb sollte man sich fürchten, jemanden zu lieben, und es stattdessen vorziehen, ihn zu verlieren.«
Julia sah mich nachdenklich an. »Vielleicht, weil das Glück, jemanden zu lieben oder geliebt zu werden, die Angst, sich selbst zu verlieren, manchmal nicht aufwiegen kann. Wir glauben immer, alle anderen müssten ebenso empfinden wie wir selbst und von den gleichen Dingen träumen. In Wahrheit ist aber jeder Mensch eine Zwiebel und …«
»Ist jeder Mensch was?«, unterbrach ich sie irritiert.
»Jeder Mensch ist eine Zwiebel«, wiederholte sie und fuhr dann fort: »Viele Schichten und darunter steckt der Kern. Oder die Seele – wie du willst. Und weil diese Schichten bei jedem unterschiedlich sind, variieren wir nicht nur in unseren Wünschen, Hoffnungen und Ängsten, sondern letztendlich auch in unseren Reaktionen, die für andere manchmal so unverständlich sind. Vielleicht resultiert aus alledem auch die
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