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Lilienrupfer

Lilienrupfer

Titel: Lilienrupfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Velden
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gewaltige Diskrepanz zwischen dem, was wir
wollen,
und dem, was wir
können.
Ich glaube für deinen Christian war die Begegnung mit dir so eine Art emotionaler Supergau. Und vor lauter Angst hat er sich in den nächsten Bunker verkrochen. Sein Verhalten ist heutzutage doch nicht selten. Die täglichen Anforderungen sind immens, beruflich und private Perfektion selbstverständlich. Ich glaube, Männer verkraften das wesentlich schlechter als Frauen. Da wurden die kleinen Jungs zu Heldenmut und Tapferkeit erzogen und merken plötzlich, dass ihre Furcht genauso groß ist wie unsere. Mädchen ist es aber von jeher erlaubt, Angst zu haben. Da sagt niemand: ›Du bist doch ein Mädchen. Du musst dich doch nicht fürchten.‹«
    »Hört, hört«, klopfte Franz dazwischen, aber wir ignorierten ihn beide und schwiegen. Ich dachte über Julias Worte nach, sie schienen mir klug und nachvollziehbar, aber nach einer Weile kam ich wieder zu der drängendsten aller Fragen: »Was soll ich deiner Meinung nach jetzt tun?«
    »Nichts. Du kannst nichts tun. Wenn schon, dann muss er etwas tun.«
    »Glaubst du, das wird er?« Ich hörte selbst, wie viel Hoffnung in meiner Stimme klang.
    Julia blickte auf ihre Hand, die mit dem Weinglas spielte. »Er ist über vierzig, nicht? Wie sehr ändert sich ein Mensch noch in diesem Alter?«
    »Nicht mehr viel   …« Ich senkte die Augen und schwieg.
    »Mir klingt das alles viel zu psychologisch«, mischte sich Franz ein. »Ich habe letztens in einer Buchhandlung einen sogenannten Ratgeber mit dem schönen Titel ›Er steht einfach nicht auf dich‹ gesehen. Ich würde sagen, das ist in neunundneunzig Prozent aller Fälle die korrekte Antwort auf Fragen dieser Art.«
    »Du bist ein Klotz, Franz«, sagte Julia und legte ihren Arm beschützend um mich.
    »Bin ich nicht. Nur manchmal unbequem ehrlich. Undine kann es zumindest als Möglichkeit in Betracht ziehen. Und übrigens, das wollte ich noch erwähnt haben: Das mit uns beiden ist mehr als eine Liaison. Damit du Bescheid weißt. Ich stehe nämlich auf dich.«
     
    Die beiden gluckten noch eine Weile um mich herum und richteten schließlich das Bett im Gästezimmer her. Julia stellte mir fürsorglich eine Flasche Wasser auf den Nachttisch und sagte: »Ich bin froh, dass du gekommen bist. Hier geht es dir bestimmt bald wieder besser.«
    Unsicher sah ich sie an. »Und ich störe wirklich nicht?«
    Sie lachte auf ihre besondere Art und sagte: »Natürlich tust du das. Aber ist das wichtig? Franz und ich haben noch jede Menge Zeit. Jetzt bist du dran.« Sie küsste mich schnell auf die Wange und ging hinaus.
    Franz und ich haben noch jede Menge Zeit, wiederholte ich im Geiste ihre Worte, während ich fast gleichzeitig dachte: Und ich? Was habe ich?
    Mit einem Mal fühlte ich mich wieder leer und hoffnungslos, meine Trauer war nicht zu Hause geblieben, sie war mit mir hier in diesem Zimmer und griff mir direkt ans Herz. Ich schaffte es nicht, meine Augen trocken zu reiben. Die Tränen kamen immer wieder. Irgendwann später, als ich das Licht längst gelöscht hatte, stellte ich mir vor, wie Julia sich an Franz schmiegte und plötzlich zu ihm sagte: »Versprich mir, dass ich bleiben kann, dass ich nie wieder da hinaus muss.«
    Ja, Robbie, dieses Versprechen wollen wir alle.
    Nicht wahr?
     
    Schlaf Du auch gut
    Es grüßt Dich
    Undine

Zweiter Teil
    Mitte Januar 2008
    Nichts in der Welt hat Bestand,
    und wir sind Toren, wenn wir verlangen,
    daß etwas dauern solle,
    aber noch törichter sind wir,
    wenn wir es nicht genießen,
    solange es dauert.
     
    William Somerset Maugham
    ›Auf Messers Schneide‹
     
    Datum: 19.   Januar 2008 10.21   Uhr
    Von: [email protected]
    An: [email protected]
    Betreff: Your Story – continued
     
     
    Liebe Undine,
     
    ich habe lange, lange nichts von Ihnen gehört und ehrlich gesagt, bedauere ich das sehr. Noch im letzten Jahr haben Sie oft geschrieben (über Ihre letzte E-Mail , die aus Italien, habe ich stellenweise Tränen gelacht), aber erst später ist mir aufgegangen, dass es Ihnen vielmehr darum ging, sich die Dinge von der Seele zu schreiben, als gelesen zu werden und Antwort zu erhalten. Ich vermute, Ihre E-Mails waren eine Art Ersatz für ein Tagebuch, nicht wahr?
    Wahrscheinlich verblüfft es Sie, nach so langer Zeit festzustellen, dass die E-Mails nicht nur gelesen wurden, sondern dass Sie jetzt auch noch eine Antwort erhalten. Wahrscheinlich nicht die, die Sie sich im besten Fall gewünscht hätten,

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