Lilienrupfer
Schluck von seinem Wein. »Zu blöd, dass überall das Rauchen verboten ist«, sagte er dann. »Es wäre genau der Augenblick für eine Zigarette.«
Ich nickte und wartete schweigend darauf, dass er weitersprach. »Wahrscheinlich klingt es verrückt, aber ich glaube, Christian Zimmermann ist in Wahrheit der Lilienrupfer und das ist der Grund, weshalb du nicht willst, dass er den Roman übersetzt.«
Ich wich seinem Blick aus und fragte heiser: »Wie kommst du darauf?«
»Das ist nicht allzu schwer. Schon während des Treffens bei Römer ist mir aufgefallen, dass du ihn die ganze Zeit über ignoriert hast. Du hast mit allen anderen gesprochen, nur mit ihm nicht und schienst mir schon verkrampft vom vielen Wegsehen. Ich hatte den Eindruck, du machst das bewusst. Es war mir nur nicht klar warum. Als Anette Schmitt mir dann von deiner E-Mail erzählte, begann ich nachzudenken und mir fiel ein, dass der Mann aus deinen Briefen Christian hieß, dass er Übersetzer war, an irgendeiner Stelle hieß es sogar, er sei gerade mit dem Buch einesbritischen Autors beschäftigt.« Er räusperte sich kurz und fragte dann: »Liege ich komplett daneben?«
Ich atmete durch und murmelte: »Nein. Touché.«
Danach schwiegen wir und sahen auf unsere leer gegessenen Teller. Ein wenig später sagte endlich: »Das ist ein ganz schöner Mist. Das ist so unglaublich, damit konnte ja keiner rechnen. Ich glaube, wir sollten jetzt doch rausgehen und eine rauchen. Was meinst du?«
Ich nickte, stand auf, schlüpfte in meinen Mantel und griff nach meinem Wein und meiner Tasche. Draußen pfiff der Wind, es war eisig kalt, und während wir die Zigaretten anzündeten, drängten wir uns hinter dem, in einem Rest von Barmherzigkeit, bereitgestellten Rauchertischchen gegen die Wand, um zumindest ein wenig Schutz vor der Kälte zu finden.
»Deprimierend«, sagte.
»Erniedrigend«, antwortete ich. Dann rauchten wir und sahen fröstelnd ein paar Leuten hinterher, die beladen mit Tüten aus irgendwelchen Nobel-Läden der Gegend an uns vorübergingen und im Eingang zu den Fünf Höfen verschwanden.
»Was machen wir nun?«, fragte ich schließlich.
»Gute Frage. Ich verstehe dein Problem sehr gut. Du musst mir gar nichts mehr erklären – ich kann verstehen, dass du Christian da raushaben möchtest.«
»Hat er das Buch denn schon gelesen? Oder hat er noch gar kein Exemplar der englischen Ausgabe?« Ich merkte selbst, wie flehend meine Stimme klang.
____ warf mir einen schnellen Blick zu und sagte dann beruhigend: »Soweit ich weiß, nicht. Also nur keine Aufregung.«
Ich atmete auf. »Das ist gut. Ich möchte nicht, dass ervon … von meinen Gefühlen oder Gedanken erfährt. Es geht ihn nichts an. Und es wäre mir peinlich.«
»Und vor allem soll er nicht wissen, wie wichtig er dir war, oder?«
»Ja«, antwortete ich verhalten. Konnte dieser Mann in mich hineinsehen? Er musterte mich einen Augenblick lang, aber sein Blick verriet nicht, was er dachte. Schließlich sagte er ruhig: »Das ist wirklich ein Dilemma. Nicht nur für dich. Auch für Christian. Du hast seine Krücken ja gesehen. Er war lange Zeit sehr krank, und dieser Auftrag wäre wichtig für ihn. Mental und finanziell, so wie ich das sehe. Andererseits möchte ich aber auch dich beschützen, verstehst du? Ich habe dich schließlich erst in diese Situation gebracht.«
Beschützen? Ich war so erstaunt, dass ich sogar vergaß, nach Christians Krankheit zu fragen. Nie hatte irgendein Mann geglaubt, mich beschützen zu müssen, obwohl ich es mir oft gewünscht hatte. Aber ich ging nicht darauf ein und fragte schließlich: »Was war denn mit Christian?«
»Sagt dir Guillain-Barré-Syndrom etwas?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Nie gehört.«
»Es ist ziemlich schlimm. Eine Erkrankung der Nervenbahnen am Rückenmark. Meistens beginnt sie mit einer Lähmung der Beine, die sich innerhalb von Stunden über den ganzen Körper ausbreitet. Und wenn die Krankheit nicht innerhalb dieser kurzen Zeit diagnostiziert und behandelt wird, kann sie letztendlich zur Atemlähmung führen … ja, und dann: Exitus.«
»Das ist ja furchtbar.« Meine Stimme klang rau. »Wann ist das denn passiert?«
»Wohl schon im Spätsommer vergangenen Jahres. Nach allem, was ich weiß, dauert die Rekonvaleszenz über Monate.Du hast ja gesehen, wie schlecht er läuft. Er sagt, er habe noch immer kein Gefühl in den Füßen.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und schüttelte nur den Kopf. »Es tut mir
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