leid. Wirklich. Sehr leid.« Ich fühlte mich den Tränen nah, ohne sagen zu können, warum.
»Na komm«, sagte, als könne er wieder in mich hineinsehen. »Er hat’s überlebt. Und wir beide gehen jetzt rein. Sonst holen
wir
uns am Ende noch den Tod.«
Ich folgte ihm, wir bestellten noch einen Wein, redeten weiter und vermissten die Zigaretten.
»Ich werde noch einmal mit Anette Schmitt sprechen«, sagte am Ende des Abends. »Vielleicht muss man Christian den Auftrag ja nicht wegnehmen, sondern könnte ihn gegen einen anderen tauschen. Ich werde Anette sagen, dass ich deinen Vorschlag gut finde, aber das nicht näher erläutern. Dann wäre für niemanden etwas verloren, aber vielleicht allen geholfen.«
»Und wenn sie Nein sagt?«
»Daran denken wir jetzt nicht.«
Ich lachte leise. Die Antwort kam mir bekannt vor.
***
Ich hatte Glück. Anette Schmitt sagte nicht Nein. Vielmehr schrieb sie mir, sie sähe in s Vorschlag kein Problem und werde Christian fragen, ob er mit einem Tausch einverstanden sei. Im Übrigen freue sie sich, mir in den nächsten Tagen einen englischen ›Lily Picker‹ zuzuschicken. Ich war erleichtert.
Im Internet hatte ich nach dem Guillain-Barré-Syndrom geforscht und einiges darüber gefunden. Es lief im Grunde auf das hinaus, was mir bereits erzählt hatte, wobeimich das Fachliche allein nicht zufriedenstellte. Ich versuchte mir vorzustellen, wie Christian empfunden haben musste. Ob er sich gefürchtet hatte oder ob er mit jener stoischen und männlichen Art von Tapferkeit reagiert hatte, die nach außen ein gleichmütiges Gesicht zeigt, während die Verzweiflung im Inneren einen einsamen Kampf ficht? War jemand bei ihm gewesen? Jemand, der ihm Zuversicht schenken konnte, Trost und Wärme?
Von einer Minute auf die nächste die Selbstverständlichkeit eines beweglichen Körpers zu verlieren, die Gründe nicht zu kennen – wie ausgeliefert musste man sich fühlen, wie hilflos und ängstlich. Ich hoffte, dass er nicht allein gewesen war.
Keine Ahnung, was mich zu solch sentimentalen Gedanken trieb. Es war ja nicht so, dass die Krankheit Christian plötzlich zum besseren Menschen machte oder etwas von dem revidierte, was zwischen uns geschehen war. Sie löschte nicht diese Kälte aus meiner Erinnerung, die ich bei unserem letzten Gespräch empfunden hatte, beantwortete keine der Fragen, die mich nächtelang nicht mehr hatten schlafen lassen, dämpfte nicht die Lethargie, die mich daraufhin ergriffen und für lange Zeit ins Bett getrieben hatte. Ich hatte unzählige Bücher gelesen in dieser Zeit, aber fast keinen Menschen mehr gesehen. Die Toskana-Woche ausgenommen. Aber nachdem Julia und Franz mich wie besorgte Amseleltern gepäppelt hatten, war mir meine Wohnung später beängstigend leer erschienen. Die Einsamkeit hatte sich wie ein Sack über mich gestülpt und alles dicht gemacht.
Dass das alles passiert war, einfach so, in einem Moment, wo ich die Zukunft warm hatte funkeln sehen, war dasSchlimmste daran. Es hatte mich kalt erwischt. Und dann hörte ich von Guillain-Barré. Die Krankheit hatte bei Christian ebenso unvermittelt zugeschlagen. Welch seltsame Parallelen.
***
Datum: 20. Februar 2008 09.34 Uhr
Von:
[email protected] An:
[email protected] Betreff: Übersetzung ›Lily Picker‹
Liebe Undine,
ob Du überrascht sein wirst, von mir zu hören, weiß ich nicht genau. Höchstwahrscheinlich schon, nehme ich an und denke gleichzeitig: Wer Ärger sät, muss mit den Konsequenzen rechnen.
Damit bin ich auch schon mitten im Thema und sicherlich ahnst auch Du, worauf ich hinaus will. Vielleicht kannst Du Dir sogar meine Überraschung vorstellen, als mich gestern Anette Schmitt anrief und mir eine Art Tauschhandel vorschlug: Den ›Lily Picker‹ gegen das Buch eines Autors, der als neuer Ken Follett gehypt werden soll. Prinzipiell wäre dagegen nichts zu sagen, im Gegenteil – immerhin, sie boten sogar eine Verkaufsbeteiligung an, was immer noch eine Seltenheit ist, von der jeder Übersetzer träumt. Was ich also normalerweise mit einem schönen Brunello feiern würde, ließ mir gestern die Milch sauer werden.
Für wie bescheuert muss man mich halten, wenn auchnur einer annimmt, ich würde dieses ganze »Es-soll-besser-eine-Frau-den-Lily-Picker-übersetzen«-Gerede tatsächlich glauben? Natürlich, die arme Schmitt kennt die wahren Hintergründe nicht, aber Du! Du kennst sie und hast das Ganze wahrscheinlich auch selbst angezettelt. Am Ende sogar noch