Lilienrupfer
stand sie vor mir, ein herzliches Lächeln im Gesicht, die aschblonden Haare trug sie schulterlang und unzählige Fältchen wärmten ihren Blick. Sie streckte mir die Hand entgegen, die ich ergriff. Im selben Moment erstarrte ich. Mein Blick fiel auf das Gesicht des Mannes hinter ihr. Der Mann mit den Krücken.
Christian.
Ab diesem Zeitpunkt trennte mich eine Wand aus Nebel von den anderen. Plötzlich sah ich mich selbst von außen, als spielte ich die Szene eines Films. Um Haltung bemüht, Rebecca Williams die Hand reichend, antwortete ich und lächelte weiter, während der andere Teil von mir kaum mehr fähig war, einen klaren Gedanken zu fassen. Angestrengt versuchte ich, Christian zu ignorieren, und riss mich zusammen, so gut es ging, als Anette Schmitt mich irgendwann in seine Richtung schob.
»Darf ich vorstellen: Undine Busch, die entscheidende Frau dieser Runde«, sagte sie und fügte hinzu: »Und das ist Christian Zimmermann. Nach ____ ______ ist er zweifellos unser wichtigster Mann. Er übersetzt seine Bücher schon seit Jahren und ist für diesen kultiviert-schnoddrigen Ton im Deutschen verantwortlich.«
Ich glaube, es war einer der merkwürdigsten Momentemeines Lebens, als ich Christian die Hand reichte und so tat, als sähe ich ihn zum ersten Mal. Und auch seiner Reaktion war anzumerken, dass ihn meine Anwesenheit fast sprachlos machte.
Während schließlich alle um den großen Tisch saßen, in dessen Mitte ein Vorausexemplar des ›Lily Picker‹ lag, Kaffee tranken und dem Verleger lauschten, der in launigen Worten die Geschichte meiner E-Mails zum Besten gab, ging mir zum ersten Mal Christians Funktion in diesem absurden Spiel auf.
Er
würde das Buch übersetzen, er würde diese E-Mails lesen, er wüsste, dass ich sie geschrieben hatte und dass es natürlich um ihn darin ging. Er würde mir in die Seele blicken, ich läge ironischerweise vor ihm wie ein offenes Buch. Weshalb war mir das nicht schon früher eingefallen? Als ich damals in seiner Wohnung gewesen war, hatte doch eine fast fertige Übersetzung von ____s letztem Roman auf dem Schreibtisch gelegen. Wie konnte ich das nur vergessen? Was allerdings hätte es geändert, wenn ich mich daran erinnert hätte? Ich hatte ja nicht wissen können, wo meine E-Mails landeten.
Inzwischen hatte Christian wohl begriffen, welche Rolle ich spielte und weshalb ich hier war. Mehrmals hatte er mich ungläubig angesehen, doch ich war seinem Blick immer ausgewichen. Selten hatte ich mich so unwohl gefühlt. Und während alle anderen weiter über aufregendes Marketing, geplante Fotosessions, Talkshows und Internetauftritte diskutierten, dachte ich nur eines: Christian durfte dieses Buch niemals übersetzen.
***
In meinen Schläfen pochte es schmerzhaft, als ich gegen zwölf nach Hause kam. Anette Schmitt hatte uns nach einem langen Nachmittag ins »Bistro Terrine« zum Abendessen eingeladen. Es war anstrengend gewesen, einen ganzen Tag lang eine gute Figur zu machen und geistreichzu smalltalken. Vielleicht hätte man mir sogar weniger Geschliffenes durchgehen lassen, schließlich galt ich als Künstlerin, aber ich war in meiner dörflichen Kindheit zu Höflichkeit und Bescheidenheit erzogen worden, und das in einer Zeit, in der man sonntags im roten Faltenröckchen, weißen Kniestrümpfen und schwarzen Lackschuhen zur Kirche ging – das »enfant terrible« lag mir einfach nicht.
Als ich später mit einer Wärmflasche im Bett lag, fand ich keine Ruhe. So müde ich auch war und schlafen wollte, mein Verstand war wach wie eine Lerche und kreiste um Christian. Meine Hoffnung, er würde das Abendessen sausen lassen, hatte sich nicht erfüllt. Er war mitgekommen und hatte sich so selbstverständlich von ____ ______ mit seinen Krücken helfen lassen, dass es den Anschein erweckte, als seien sie seit Langem alte Kumpel.
Die Krücken hatten mir ohnehin zu denken gegeben, aber niemand hatte es für nötig gehalten, ihre Existenz zu erklären. Im Vorübergehen hatte ich gehört, wie jemand ihn fragte, ob es ihm inzwischen besser gehe, und er hatte mit einem abschwächenden »das Schlimmste ist ausgestanden« geantwortet. Ich war nicht schlau daraus geworden, aber es war nicht zu übersehen gewesen, dass er sich schwer mit dem Gehen tat. Auch in seinem Gesicht hatten sich Spuren von Anstrengung und Erschöpfung gezeigt, die Wangen waren hohler, die Augen größer, als ich sie in Erinnerung hatte, und um seinen Mund lag, eingekerbt, ein neuer, bitterer
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