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Lilienrupfer

Lilienrupfer

Titel: Lilienrupfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Velden
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wechseln. Aus Christian strömten die Worte wie Wasser, das lange gestaut worden war und jetzt seinen Lauf suchte.
    Er erzählte weiter von Isolde, und dass sie zuerst abgelehnt hatte, Hilfe von ihm anzunehmen, aber inzwischen erlaubte sie ihm, das Kind monatlich mit einer festen Summe zu unterstützen.
    »Es ist nur Geld«, sagte er. »Im Grunde ist es läppisch, aber wenigstens kann ich
etwas
tun.«
    Ich verstand ihn gut.
    Irgendwann – das Restaurant war inzwischen leer geworden – begann er von seiner Krankheit zu sprechen. Es war ein Tag Ende August gewesen. Die Geschichte um Isolde hatte sich etwas beruhigt, er selbst lebte wieder seinen gewohnten Trott. Aufstehen, Fahrradfahren, danach Kaffee und ein Croissant, dann die Arbeit auf dem Schreibtisch.Er war wie immer zur gewohnten morgendlichen Runde draußen gewesen, aber es war ihm schwergefallen, die Pedale zu treten, und in den Zehen des rechten Fußes hatte er ein merkwürdiges Gefühl verspürt, dem er aber nicht viel Beachtung schenkte. Was ihn seit Tagen wirklich in den Wahnsinn trieb, war der andauernde Minzgeschmack im Mund.
    »Egal, was ich gegessen oder getrunken habe – alles schmeckte plötzlich nach Vivil. Ein Brathering nicht anders als ein Honigbrot. Grauenvoll.«
    Trotz allem musste ich lachen. »Wie kam das?«
    »Nennen wir Guillain-Barré einfach eine autoimmune Verwechslungskomödie. Ausgeflippte Antikörper übernehmen die Regie und verkehren alle möglichen Empfindungen ins Gegenteil. Nachher kam es noch schlimmer: Ich konnte heiß nicht mehr von kalt unterscheiden. Es ist der blanke Irrsinn. Aber das passierte alles erst viel später.«
    Als er an diesem Morgen nach Hause gekommen war, sei ihm plötzlich aufgefallen, dass er seine Zehen gar nicht mehr spürte. Sie waren vollkommen taub. Es sei ihm merkwürdig vorgekommen, aber nicht allzu bedeutungsvoll. Es würde sich bestimmt wieder geben, eine leichte Verstauchung oder etwas in der Art, hatte er geglaubt. Im Laufe des Vormittags weitete sich die Taubheit bis in seine beiden Beine aus. Als er irgendwann vom Schreibtisch aufstehen wollte, waren sie unter ihm weggeknickt, wie brüchige Streichhölzer, so als gehörten sie nicht zu ihm.
    »In meinem ganzen Leben hatte ich nie so eine Angst verspürt«, sagte er. »Es war furchtbar. Mein Herz hämmerte wie verrückt. Ich hatte keine Ahnung, was diese Taubheit zu bedeuten hatte und woher sie so plötzlich kam. Dann dachte ich, es sei ein Schlaganfall, und wurde totalpanisch. Irgendwie schaffte ich es, mich wieder hochzuziehen und zum Telefon zu hangeln.«
    Die Ärzte diagnostizierten die Krankheit schnell. Inzwischen hatte die Lähmung auch den Oberkörper und damit die Lunge erfasst. Sie beatmeten ihn künstlich, während die Lähmung auch auf sein Gesicht überging.
    »Keine schöne Erfahrung«, sagte Christian nur und blickte knapp an mir vorbei. »Aber es ging vorüber. Allerdings sprach ich wochenlang schlimmer als jeder Volltrunkene. Es klang total bescheuert, am Anfang wollte ich gar nicht reden, weil mir mein verwaschenes und dumpfes Gelalle so peinlich war. Aber irgendwann vergaß ich meinen Stolz.
Ich war nicht gestorben
! Und als ich begriff, dass das fast an ein Wunder grenzte, wurde ich demütig und dankbar. Was spielte es für eine Rolle, wie ich sprach, wenn ich meinen Mund überhaupt noch öffnen konnte.«
    Ich hätte gern etwas gesagt. Etwas, das auch im Nachhinein tröstend gewesen wäre, aber mir fehlten die richtigen Worte. Ich schwieg demnach und hörte weiter zu.
    Die Rekonvaleszenz dauerte über Monate. Nach vier Wochen erreichte die Krankheit ein sogenanntes Plateau und die Lähmungen gingen langsam zurück, doch bis man sprichwörtlich wieder auf den Beinen war, dauerte es lange. Noch immer spüre er seine Füße nicht und brauche deshalb nach wie vor Krücken.
    Inzwischen war es eins geworden. Die Schläfrigkeit im Blick der Kellnerin paarte sich mit einem deutlichen Vorwurf. Wir gehorchten der Aufforderung, verlangten die Rechnung und verzogen uns. Ich musste am nächsten Tag früh aufstehen und wusste, wenn ich jetzt noch länger bliebe, würde ich nur schwer aus dem Bett kommen. Aber andererseits war ich von Christians Geschichte gefesseltund wollte sie zu Ende hören. Ich stimmte also zu, als er vorschlug, in die »Frauenhofer Schoppenstuben« zu wechseln, wo man es mit der gesetzlich verordneten Münchner Bettruhe nicht so genau nahm. Dort bestellten wir wieder Wein und lauschten einem Sänger, der mit

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