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Lilienrupfer

Lilienrupfer

Titel: Lilienrupfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Velden
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mild-ranzigem Schmelz in der Stimme ›Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da‹ sang.
    »Die Krankheit ist der absolute Crash«, nahm Christian das Thema wieder auf, nachdem der Sänger sein Haupt mehrmals dem Applaus entgegengeneigt hatte. »Sie verlangt dir alles ab: Verzweiflung, Panik, Todesangst. Die Sanitäter und Ärzte, wie sie dich betrachten mit dieser mitleidsvollen Distanz im Blick, wie sie Dinge murmeln, die du nicht verstehst, danach all die Untersuchungen, deren Bedeutung du nicht kennst, stattdessen liegst du da, hilflos, lahm und ausgeliefert. Die Tage ziehen sich ebenso endlos dahin wie die Nächte, es gibt nichts zu tun, außer diesem starren Daliegen und dem zähen Warten auf den Erfolg der Behandlung. Ich hatte noch Glück, über den Tropf verabreichten sie mir Immunglobuline. Gott sei Dank schlugen sie bei mir an, und ich schrammte an einer Blutwäsche gerade noch vorbei.« Er unterbrach sich und blickte sekundenlang in eine unbekannte Ferne, ehe er fortfuhr: »Ich war einsam dabei. Meine Eltern sind schon alt, sie konnten nicht kommen, und meine Geschwister haben mit sich selbst und ihren Kindern zu tun. Natürlich besuchten mich Freunde und Kollegen, aber es war niemand da, der sich um mich kümmerte und dem ich meine Angst zeigen konnte. Ich bin kein besonders sentimentaler Mensch, es hat mir nie etwas ausgemacht, allein zu sein, ich komme eigentlich ganz gut mit mir selbst zurecht, aber in dieser Zeit stieß ich wirklich an die Grenzen meiner einzelgängerischen Qualitäten.«
    »Vor einem Jahr hättest du das nicht gesagt«, unterbrach ich ihn. »Du hättest zur Seite geblickt und jeden Satz, der in diese Richtung ginge, mit dieser männerspezifischen, unangebrachten Tapferkeit abgewehrt.«
    »Vermutlich«, antwortete er. »Man wird kein vollkommen anderer, egal was passiert. Man hat seinen Stempel aufgedrückt und da bleibt er. Aber vielleicht kommen im Laufe der Jahre neue Stempel hinzu. Ich kann nicht für alle sprechen, ich kann aber sagen, diese Krankheit
war
wie ein neuer Stempel für mich. Während ich dalag und mich nicht bewegen konnte, und auch später, als ich wie ein alter Mann am Rollator neu laufen lernen musste oder mich bei dieser Schwimmtherapie quälte, habe ich immer gedacht, wenn das vorbei ist, machst du vieles anders. Du bist noch einmal auf die Welt gekommen. Das ist vielleicht eine Chance, ein anderer zu werden. Und nicht nur ein anderer. Vielleicht sogar ein besserer.«
    »Und? Hat es geklappt?«, fragte ich und tat so, als krame ich in meiner Tasche nach meinem Feuerzeug.
    »Ich weiß es nicht. Das muss die Zeit zeigen. Ich verabscheue Phrasen, und Vorsätze fasse ich nie. Das kommt mir unehrlich vor. Das Leben lebt sich in vielerlei Hinsicht selbst. Dessen bin ich mir bewusst, aber es gibt immer Stellen, wo man eingreifen kann, vielleicht werde ich sie jetzt besser sehen.«
    »Hättest du dich unter normalen Umständen noch einmal bei mir gemeldet?«, fragte ich, obwohl in Wahrheit die Frage »Bin ich eine dieser Stellen?« hätte lauten müssen.
    Seine Antwort kam zögernd. »Ich glaube nicht. Ohne das Buch hätte ich weiterhin geglaubt, die Geschichte sei vorbei.«
    »Hast du an mich gedacht?«
    »Ja. Später. Nachdem die Geschichte mit Isolde sich beruhigt hatte und ich schon in der Klinik lag. Da habe ich manchmal gedacht, wie es wäre, wenn   …«
    »Wenn?«
    »…   du da wärst   …«
    »…   um deine Hand zu halten?«
    »So ähnlich.«
    Wir blickten uns vorsichtig, fast tastend in die Augen, und nach ein paar Sekunden fragte ich, um die Situation zu entschärfen: »Hast du eigentlich sehr viel geweint?«
    »Nein.« Christian lächelte. »Aber mein iPod spielte ziemlich oft Sinatra.«
    ***
    Am nächsten Tag machte ich blau. Erst gegen vier war ich nach Hause gekommen und hatte nicht einschlafen können. Um halb sechs hinterließ ich auf dem Anrufbeantworter des Theaters irgendetwas von einem Magen-Darm-Virus. Aber selbst nachdem der Druck, mit wenigen Stunden Schlaf auszukommen, von mir genommen war, wurde ich nicht ruhiger und schlief noch immer nicht ein.
    Vielmehr fühlte ich mich aufgepeitscht, von Unrast befallen. Ich mochte dieses Gefühl nicht. Es nahm mir jeglichen klaren Gedanken und schickte die verschwommenen auf Rotationskurs.
    Christian hatte mich nach Hause gebracht und zum Abschied auf die Wange geküsst. Das Weiß seiner Zähne leuchtete im Dunkeln. Es war mir von jeher aufgefallen,
wie
weiß sie waren. Schon merkwürdig, auf

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