Lilienrupfer
Unfall. Kein Mensch weiß, wohin er nach dem Streit wollte. Sein Wagen ist auf der Autobahn ins Schleudern geraten. Er muss wie ein Irrer gefahren sein.«
»O Gott«, sagte ich erstickt und beachtete das Essen nicht, das die Kellnerin in diesem Augenblick auftrug. »Wie grauenvoll.«
Christian nahm sein Besteck zur Hand, um es gleichdarauf wieder neben den Teller zu legen. »
Das
hat Isolde mir an diesem Tag erzählt. Was heißt ›erzählt‹. Sie schrie, tobte und weinte in meiner Wohnung, es sei alles meine Schuld, wenn ich mich nicht in ihr Leben gedrängt hätte, wäre sie nie auf solche Gedanken gekommen, sie hätte sich nicht wie eine x-beliebige Schlampe benommen, sie sei immer ein anständiger Mensch gewesen und ihr Kind – das war das Schlimmste – hätte noch immer einen Vater. Der Junge sei erst fünf Jahre alt und frage immer wieder nach seinem Papa und sie wisse weder, was sie ihm antworten solle, noch wie sie selbst mit alldem weiterleben könne.«
Ich musterte Christian schweigend und hatte Mühe, nicht nach seiner Hand zu greifen. Mir fiel außer dieser Geste nichts ein, was ich hätte tun oder sagen können. Aber etwas hielt mich zurück, und ich schob stattdessen meinen Teller zur Seite und griff wieder nach einer Zigarette.
»Wie gut, dass man hier rauchen darf«, sagte ich schließlich banal.
»Ja«, seine Stimme klang rau. »Weißt du, Undine«, fuhr er nach einer Weile fort«, das Entsetzlichste für mich war, dass sie recht hatte. Ich bin ein Mitschuldiger. Ich weiß nicht, aus welchem Grund ich für diese Rolle auserkoren wurde, aber es stimmt: Ich habe mich in Isoldes Leben gedrängt, damals an diesem Abend in der Kneipe, obwohl es offensichtlich war, dass sie nicht alleine war. Und dann diese Angeber-Nummer mit dem Prospekt, ich kam mir so cool und überlegen vor … Und warum? Aus verletztem Stolz, dummer Eitelkeit. Eine billige kleine Rache, weil Susanne mich betrogen hatte und ich damit und mit meinen Gefühlen für sie nicht klarkam. Weil ich,was Zwischenmenschliches angeht, ein völliger Versager bin.«
»Aber Isolde hat mitgemacht«, wagte ich schließlich einzuwerfen.
»Natürlich hat sie das. Aber wenn ich nicht da gewesen wäre, wenn ich sie in Ruhe gelassen hätte, dann …«
»… wäre vielleicht ein anderer gekommen.«
»So leicht kann ich es mir nicht machen, Undine.
Ich
bin genauso dafür verantwortlich wie sie.«
»Das stimmt«, antwortete ich langsam und erkannte, dass er recht hatte. »Aber selbst die größte Buße kann es nicht ungeschehen machen. Viele Rädchen haben ineinandergegriffen, dass das geschehen konnte, du warst nur eins davon.« Ich verstummte kurz. Dann sagte ich: »Im Grunde weiß ich nicht, was ich darauf sagen soll. Ob es überhaupt etwas gibt, was man darauf sagen
kann
. Ich kann dir die Schuld nicht ausreden, denn sie ist da. Ich habe keine Ahnung, wie man mit derartigem lebt. Und ich will auch nicht egoistisch klingen, aber ich frage mich, weshalb du damit nicht schon damals zu mir gekommen bist. Warum hast du nichts gesagt?«
Er sah mich lange an. »Weil mir damals bewusst wurde, was für ein Schwein ich bin. Weil ich nicht wollte, dass du das erkennst. Weil ich Angst hatte, du könntest es eines Tages, wenn es gerade passen würde, gegen mich verwenden. Ich schämte mich einfach.«
»Weshalb sagst du es mir jetzt?« Plötzlich erinnerte ich mich, wie er damals am Telefon nicht hatte auflegen können, wie er das Gespräch immer wieder aufgenommen und künstlich in die Länge gezogen hatte. Vielleicht hätte er doch darüber gesprochen, dachte ich jetzt, wenn
ich
darauf eingegangen wäre. Im Grunde unterschied ich michgar nicht so sehr von ihm. Auch ich hatte mich so davor gefürchtet, verletzt zu werden, dass ich am Ende stumm geblieben war. Wäre ich damals weniger stolz gewesen, weniger ängstlich, hätte ich gezeigt, wie viel mir an ihm lag … – ja, was dann?
»Weil ich durch das Buch begriffen habe, wie viel Schmerz du ertragen hast«, unterbrach er meine Gedanken. »Und weil ich während meiner Krankheit begriffen habe, dass ich anfangen muss, ein paar Dinge wiedergutzumachen. Und eins davon bist du.«
Wir redeten weiter bis tief in die Nacht. Das Essen auf unseren Tellern war kalt geworden. Wir hatten kaum etwas davon angerührt. Dafür hatten wir noch einen weiteren Liter Wein bestellt, und in dem Aschenbecher vor uns häuften sich die Zigarettenkippen. Die Kellnerin hatte es längst aufgegeben, ihn zu
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