Lilientraeume
irgendwohin fliegen, wo es jede Menge Sonne, weiße Strände und leuchtend blaues Wasser gab. An einen Ort, wo sie noch nie gewesen war und wo niemand sie kannte.
Und vielleicht käme Owen ja mit.
Clare träumte, wie es sein würde mit ihm, wenn es nichts zu tun gab und keine Verwandten und Freunde ihr Recht forderten. Wenn da nichts wäre außer ihm und ihr und ringsum nichts als Einsamkeit – wenn sie Fremde wären unter Fremden in einem fernen, exotischen Paradies.
Claire und Beckett hatten sich für die Karibikinsel St. Kitts entschieden. Und anschließend wollten sie mit den Jungen noch einen einwöchigen Urlaub anhängen. Eine Familienhochzeitsreise, wie Murphy das nannte. Auch nicht schlecht, dachte Avery, vor allem in einem Fall wie diesem, denn schließlich heiratete Beckett ja tatsächlich eine Familie.
Von dem Paar, das sein Happy End gefunden hatte, wanderten ihre Gedanken zu Lizzy, die seit etwa hundertfünfzig Jahren im BoonsBoro Inn gefangen war, weil sie auf ihren Billy wartete. Hatten sich die zwei geliebt, bevor eine Tragödie über sie hereinbrach? Oder war des Rätsels Lösung am Ende gar nicht romantisch, sondern höchst desillusionierend, wie Owen es unterstellen wollte? Hatte das Mädchen womöglich von einer Liebe fürs Leben geträumt, während der junge Mann seiner Wege ging?
Jeder träumte schließlich von einem Märchenprinzen, sie nicht ausgenommen. Zumindest als Kind hatte sie das getan. Bis sie begriff, dass es Wunder wie im Märchen in der Wirklichkeit nicht gab. Es sei denn, man bewirkte sie selbst, und zwar durch Fleiß, Zielstrebigkeit und Ausdauer.
Avery hatte ihre Lektion gelernt und war gut damit gefahren. Zufrieden streckte sie sich noch einmal und beschloss, dass es Zeit war, aufzustehen und an weiteren Wundern zu arbeiten.
Sie richtete sich im Bett auf und sah, dass Owen den Kamin angezündet hatte. Er war so fürsorglich, so bemüht um ihr Wohlbefinden und ihre Bequemlichkeit. Sie konnte sich wirklich glücklich schätzen, dass ein solcher Mensch Teil ihres Lebens geworden war.
Als ihr Handy den Eingang einer SMS meldete, galt ihr erster Gedanke ihm, doch die Nachricht kam von Clare. Die Freundin bat sie, auf dem Weg nach Hagerstown, wo sie den Großeinkauf erledigen wollte, noch kurz bei ihr im Buchladen vorbeizuschauen. Warum, das schrieb sie nicht.
Sie sprang unter die Dusche, zog Jeans, Bluse und Pullover an und begutachtete kritisch ihr noch feuchtes Haar. Die letzte Tönung war inzwischen leicht verblasst – Zeit für eine neue Farbe. Im Drugstore würde sie anhand der Farbpalette prüfen, welcher Farbton ihrer aktuellen Stimmung am ehesten entsprach.
Als sie in die Küche kam, fand sie warm gestellten Kaffee vor. Sie lächelte. Auf Owen war eben Verlass. Außer ihrem Vater gab es sicher keinen Mann auf der ganzen weiten Welt, der so verlässlich und solide war wie er. Und weil sie ihrer Freude irgendwie Ausdruck verleihen zu müssen glaubte, malte sie auf die Schiefertafel an der Wand spontan ein Herz mit ihrer beider Initialen. Dann trank sie schnell einen Becher Kaffee, löffelte einen Joghurt und zog Mantel, Schal und Stiefel an.
An der Haustür entdeckte sie einen gelben Haftzettel. »Es soll heute regnen« , hatte Owen darauf notiert. Auch das war typisch für ihn, dachte sie und griff nach dem bereitstehenden Schirm.
Auf halbem Weg nach Boonsboro klatschten bereits die ersten dicken Regentropfen gegen ihre Windschutzscheibe. Owen hatte mal wieder recht behalten. Trotzdem sprang sie, ohne an den Schirm zu denken, wenig später aus dem Wagen und hastete durch den Regen zum Laden der Freundin. Als sie sich drinnen gerade die Nässe aus den Haaren schüttelte, kam Clare aus dem im ersten Stock gelegenen Büro herunter. »Der Kaffee ist fertig.«
»Ich hab zwar schon welchen getrunken, aber eine Latte macchiato könnte ich noch vertragen.«
»Geht in Ordnung«, sagte Clare. »Und danke, dass du vorbeigekommen bist.«
»Kein Problem. Bei der Gelegenheit schau ich gleich drüben rein. Sie beginnen nämlich heute mit dem Rausreißen der Trennwände.«
»Ich weiß, Beckett hat es mir erzählt.« Während Clare die Milch aufschäumte, betrachtete Avery die Bestseller im Schaufenster.
»Ich brauch dringend einen freien, möglichst regnerischen Nachmittag, damit ich endlich mal wieder zum Lesen komme. Wobei mir das Buch, das wir gerade im Buchclub lesen, nicht wirklich gefällt. Wie soll ich mich zum Elend eines anderen Menschen stellen? Froh sein, dass es
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