Lilientraeume
entschlossen, weil ihnen einiges an Material fehlte und die Brüder für den Moment ganz gut ohne ihn klarkamen.
Er bedauerte, dass ihm das nicht früher eingefallen war, denn sonst hätte er gemeinsam mit Avery fahren können. Hoffentlich war sie nicht ohne Schirm los, dachte er, als er in den strömenden Regen schaute. Was ihn betraf, er zog dieses Wetter auf alle Fälle dem Schnee vor, der noch immer ganze Regionen von Maryland unter sich begrub.
Er wusste, dass Avery Spätschicht hatte, und so nahm er sich schon einmal vor, abends im Vesta zu essen und anschließend in ihrer Wohnung noch ein bisschen Papierkram zu erledigen, bis sie das Restaurant abschloss. Inzwischen war ihre Beziehung so weit gediehen, dass sie einander ungefragt besuchten und voraussetzten, dass sie willkommen waren. Auch über Nacht.
Ob Avery allerdings für den nächsten Schritt schon bereit war, da plagten ihn Zweifel. Doch weil er um ihre speziellen Probleme wusste, wollte er ihr Zeit lassen. Außerdem war er selbst nicht unzufrieden mit dem augenblicklichen Stand der Dinge.
Sobald er die Stadt erreichte, erledigte er zügig die diversen Besorgungen. Ging in die Eisenwarenhandlung, fuhr beim Holzhändler vorbei und holte Farben und Teppichmuster für die über der Bäckerei gelegenen Apartments ab.
Am Ende standen nur noch ein paar persönliche Dinge auf seiner Liste, und er steuerte den nächsten Supermarkt an. Gerade als er in der Drugstore-Abteilung Aspirin für Beckett besorgte, entdeckte er im nächsten Gang Avery.
Sein Gesicht leuchtete auf, und voller Freude wollte er sich leise an sie heranschleichen und ihr kurz die Augen zuhalten. Sicher würde sie zusammenfahren, kreischen, sich erschrocken umdrehen und dann fröhlich lachen.
Beim Näherkommen bemerkte er jedoch, dass sie angestrengt in ein Regal blickte und Packungen herausnahm und wieder zurückstellte, bis sie sich schließlich für eine entschied, diese zu Shampoo, Duschgel und Mundwasser in den Einkaufswagen warf und weiterging.
Er stand wie angewurzelt da und völlig schockiert über seine Beobachtung: Avery hatte einen Schwangerschaftstest gekauft. Sein Gehirn lief auf Hochtouren. Ein Schwangerschaftstest? Wozu denn das, zum Teufel? Sie nahm schließlich … Und er benutzte zudem …
Wie in aller Welt konnte das passieren? Und warum hatte sie kein Wort darüber verloren? Spazierte vielmehr vergnügt in einen Drugstore und kaufte so nebenbei einen Test. Dabei könnte dessen Ergebnis ihrem Leben eine völlig neue Richtung geben.
Am liebsten wäre er hinterhergelaufen, doch es schien ihm weder der rechte Zeitpunkt noch der rechte Ort für ein derart wichtiges Gespräch zu sein. Ganz abgesehen davon, dass er sich dazu momentan nicht in der Lage fühlte. Er war so verwirrt, dass er seinen eigenen Wagen mit Einkäufen einfach stehen ließ und mit wackeligen Knien zu seinem Truck wankte.
Zurück in Boonsboro drosch er mit aller Kraft auf die restlichen Zwischenwände ein. Nichts half bei ihm besser gegen Stress und Ärger, als einen Vorschlaghammer zu schwingen. Er zerrte riesengroße Brocken aus der alten Backsteinwand, riss meterlange Stücke gesplitterten Holzes aus den Rahmen und zertrümmerte persönlich einen alten Tresen, der in einer Ecke stand. Trotzdem war er immer noch verunsichert, frustriert und zum Zerreißen angespannt.
Weil Avery möglicherweise schwanger war.
Er fragte sich, wann sie wohl das Ergebnis dieses Tests bekäme und wie zuverlässig das Resultat sein mochte. Und ärgerte sich, dass er nicht in dem Drugstore heimlich auf einer Packung nachgeschaut hatte, wie so ein Test funktionierte. Woher sollte er so was schließlich wissen?
Wenn sie sich einen solchen Test besorgte, dann war ihre Periode ausgeblieben, so viel stand fest. Frauen kauften das nicht einfach bloß zum Spaß, und niemand schaute ohne Grund nach, ob eine Schwangerschaft vorlag.
Nur warum hatte sie ihm nichts von ihren Befürchtungen erzählt? War es denn so schwer, ihm reinen Wein einzuschenken? Einfach zu sagen: Hör zu, ich hab meine Tage nicht gekriegt und mach jetzt einen Test. Doch das Naheliegende tat sie nicht. Sie musste völlig panisch sein.
Obwohl sie auf ihn nicht im Geringsten so wirkte, sondern im Gegenteil ruhig und ausgeglichen. Wollte sie womöglich schwanger sein und es ihm erst gestehen, sobald sie sicher war? Um ihn nicht unnötig zu alarmieren. Falls es sich so verhielt, fände er das irgendwie nicht richtig. Nein, es wäre sogar völlig verkehrt.
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