Lilientraeume
dachte ich, dass ich heute alles unter Wasser setzen würde vor lauter Ergriffenheit und Rührung.« Clare nippte noch einmal an ihrem Glas, bevor sie es wegstellte. »Aber ich bin erstaunlicherweise völlig gelassen. Letzte Nacht musste ich an Clint denken und bin mir völlig sicher, dass er sich für mich freuen würde. Und auch darüber, wieder einen Mann in meinem Leben und in dem seiner Söhne zu wissen. Darüber bin ich froh. Und jetzt will ich endlich runter in den Hof und mit dem Kind in meinem Bauch zu Beckett gehen.«
»Nachdem ich deinen Lippenstift nachgezogen und deine Haare ein letztes Mal gerichtet habe«, verkündete Hope und machte sich ans Werk.
Avery trat unterdessen auf den Balkon und stützte nachdenklich die Arme auf die Brüstung, als sie plötzlich bemerkte, wie ein Stück weiter die Balkontür des Nebenzimmers lautlos aufschwang. Offenbar bekam sie unsichtbare Gesellschaft.
Sie wandte ihr Gesicht zur Seite. »Ich kann nicht beschreiben, wie’s mir gerade geht. Irgendwie merkwürdig: nicht traurig, aber auch nicht glücklich. Vielleicht ein bisschen wehmütig und neidisch, dass ich nicht so sein kann wie Clare. Wie macht sie das bloß, sich ihrer Sache so völlig sicher zu sein? Schließlich ist es ein folgenschwerer Schritt. Und trotzdem wirkt sie kein bisschen nervös und zweifelt nicht im Geringsten daran, dass sie das Richtige tut. Was ist das für ein Gefühl? Wie gelangt man an diesen Punkt?«
In geschäftlicher Hinsicht verfügte sie ebenfalls über diese Sicherheit. Da war sie ausgesprochen mutig und selbstbewusst, doch im persönlichen Bereich neigte sie zum Zögern und Zaudern. Fragte sich, was einen Menschen dazu bewog, auf jemand anderen zuzugehen und ihn später auf seinem Lebensweg zu begleiten.
»Egal. Es geht hier schließlich nicht um mich. Dieser Tag gehört allein Clare, und ich sollte mich uneingeschränkt für sie freuen, statt über mich nachzugrübeln.«
Als sie sich umdrehte, um wieder ins Haus zu gehen, sah sie, dass mit einem Mal etwas auf dem Tisch zwischen den Balkontüren lag. Sie griff nach dem kleinen Stein und betrachtete ihn verwundert. Er war glatt wie ein Kiesel und wie ein Herz geformt. Dann entdeckte sie die eingravierten Initialen: L.F. und B.R.
L.F. für Lizzy Ford. Und B für Billy.
Es konnte gar nicht anders sein. Nur das R blieb vorerst ein Geheimnis.
Mit wild klopfendem Herzen blickte sie sich um. Die Tür des Nebenzimmers stand noch immer offen, und sie roch den süßen Sommerduft, so fein wie der von den Blütenblättern einer kostbaren Rose.
Sie wandte erneut den Kopf. »Hat er dir den Stein geschenkt? So muss es gewesen sein. Und du hast ihn all die Jahre aufbewahrt. Aber wie kann das sein? Du bist unsichtbar, doch der kleine Kiesel sieht aus wie ein richtiger Stein. Wie kommt er plötzlich hierher? Wie kann …«
»Avery«, rief Hope, »es geht los.«
Sie schloss die Hand um ihren Fund. »Ich werde den Stein Owen zeigen, denn deshalb hast du ihn mir vermutlich geschenkt. Versprochen«, sagte sie feierlich und legte die Hand, in der sie den kleinen Kiesel hielt, auf ihr Herz. »Ich geb dir mein Ehrenwort.«
»Avery!«
»Eine Sekunde noch.« Eilig lief sie zurück ins Haus, griff nach ihrer Handtasche und versteckte den Stein darin. Würde er sich womöglich kurzerhand in Luft auflösen und nicht mehr da sein, wenn sie ihn später suchte?
Avery wusste nicht, was sie von dieser Geschichte halten sollte.
Als der Himmel sich langsam rötlich zu färben begann, gaben Clare und Beckett sich vor dem im Hof aufgebauten, festlich geschmückten Altar das Jawort. Gerührt hörte Avery zu, wie sie sich versprachen, immer füreinander und für ihre Kinder da zu sein, und beobachtete, wie sie die Ringe tauschten, die wie zur Bestätigung dieses Versprechens im warmen Licht der Nachmittagssonne funkelten.
Die beiden strahlten eine so schlichte, tiefe und innige Freude aus, dass etwas davon auf Avery übersprang. Auch sie spürte das Wunder dieses Augenblicks, diesen verzauberten Moment, in dem zwei Menschen sich fürs Leben aneinanderbanden. Unauflöslich.
Dann jedoch wurde es fröhlich, und jegliche Rührung war wie weggeblasen. Nachdem Clare ihren ersten Kuss als frischgebackene Ehefrau bekommen hatte, stürmten alle auf das Brautpaar zu, um es zu umarmen und zu beglückwünschen.
Musik ertönte, und Avery ließ sich von Owen durch den Gang zwischen den Stuhlreihen in Richtung Foyer ziehen, wo Murphy zur allgemeinen Erheiterung laut
Weitere Kostenlose Bücher