Lilientraeume
seine Mutter und Willy B. nagte weiterhin an ihm. Wobei ihn die Ungewissheit, ob Avery es ihm womöglich verschwiegen hatte, am meisten schmerzte. Immerhin lief die Sache seit zwei Jahren.
Er musste es einfach wissen, sonst würde er eine weitere schlaflose Nacht verbringen. Deshalb fuhr er, nachdem er sich verabschiedet hatte, nicht nach Hause, sondern in die Stadt. Zum Vesta.
»Hallo Owen«, begrüßte ihn Franny, als er durch die Hintertür hereinkam. Sie stand hinter dem Tresen und schnitt eine große Pizza durch. »Was kann ich für dich tun?«
»Ist Avery da?«
»Du hast sie um ein paar Minuten verpasst. Sie fährt Bestellungen aus – heute Abend scheint alle Welt lieber zu Hause essen zu wollen. Ich schließ nachher ab, weil sie direkt in ihre Wohnung geht. Soll ich sie anklingeln?«
»Nein. So wichtig ist es nicht. Ich ruf sie später selbst an. Wie geh t ’s dir überhaupt?«
»Ich bin wieder fit. Gott sei Dank.«
»Freut mich für dich und für Avery – ohne dich ist sie ganz schön aufgeschmissen. Bis dann, Franny.«
Er trat durch die Hintertür ins Freie, doch statt zu seinem Wagen ging er zur Treppe. Er würde oben auf sie warten, beschloss er, setzte sich vor die Wohnungstür und vertrieb sich die Zeit, indem er SMS schrieb und ein paar Spiele auf dem Handy machte.
Aber Avery kam einfach nicht. Immer wieder schaute er auf seine Uhr und fragte sich, wohin zum Teufel die Lieferungen gehen mochten. Er bedauerte jetzt, unten im Restaurant keinen Kaffee mehr getrunken zu haben, denn er war ziemlich müde. Der fehlende Schlaf der letzten Nacht rächte sich.
Um sich abzulenken, spielte er eine Runde »Angry Birds«, bis ihm die Augen zufielen und er auf der Stelle einschlief.
6
Avery kam mit zwei schweren Einkaufstüten von ihrer Lieferfahrt zurück, denn sie war anschließend noch im Supermarkt gewesen. Aus alter Gewohnheit prüfte sie, ob die Hintertür des Restaurants verschlossen war, bevor sie in den ersten Stock hinaufstieg.
Oben angekommen, blieb sie wie angewurzelt stehen, als sie Owen vor der Wohnungstür sitzen sah. Schlafend. Der Kopf nach vorne gesunken, das Handy in der Hand.
»He, was tust denn du hier?«, fragte sie und stupste ihn unsanft mit einem ihrer kanariengelben Schuhe an.
Er schreckte hoch. »Was ist los, verdammt?«
»Was los ist? Du sitzt vor meiner Tür und schläfst.«
»Ich hab auf dich gewartet.« Er rieb sich die Augen. »Wo zum Teufel hast du die ganze Zeit gesteckt?«
»Pizza ausgeliefert und anschließend eingekauft. Und weil mir im Supermarkt eine Freundin über den Weg gelaufen ist …« Sie brach ab und funkelte ihn zornig an. »Warum erzähl ich dir das überhaupt? Und warum bist du überhaupt hier?«
»Weil ich …« Er rappelte sich auf und wechselte das Thema. »Warum hast du nasse Haare?«
»Ich bin ohne Mütze durch den Schneeregen gelaufen, darum. Geh mal zur Seite, die Tüten werden mir langsam zu schwer.«
Immerhin war er inzwischen so weit wach, dass er sie ihr abnahm, während sie die Tür öffnete und vor ihm in den Flur trat. Er durchquerte das Wohnzimmer, ging weiter in die Küche und stellte die Einkäufe auf der Arbeitsplatte ab.
Inzwischen hatte Avery sich aus Mantel und Schal geschält. »Wie lange hast du da draußen gesessen?«
»Keine Ahnung, wie spät haben wi r ’s denn?«
»Es ist auf alle Fälle an der Zeit, mir zu erklären, was das alles zu bedeuten hat.« Sie warf Schal und Mantel über einen Stuhl.
»Ich dachte, du hättest mir etwas zu sagen.«
»Wer saß bitte schön schlafend vor wessen Wohnungstür?« Avery wurde langsam ungeduldig und fing hastig an, die Lebensmittel einzuräumen. Im Gegensatz zu ihrem chaotischen Wohnzimmer schien sie Küchenschränke und Kühlschrank mit System einzuräumen. Dort herrschte nämlich Ordnung, wie Owen feststellte.
»Ich bin bloß etwas eingenickt, aber darum geht es nicht.«
»Sondern?«
»Du hast es gewusst, die ganze Zeit schon, und mir kein Wort verraten.«
»Es gibt eine Menge, was ich dir nicht erzähle«, sagte sie und nahm die Eier aus dem Pappkarton, um sie in das dafür vorgesehene Fach im Kühlschrank zu legen. »Also, um was handelt es sich genau?«
»Darum, dass dein Vater und meine Mutter seit fast zwei Jahren ein Verhältnis haben.«
Ein Ei fiel aus Averys Hand und zersprang auf dem Boden. »Wie bitte?«
»Ich merke, du wusstest es doch nicht.« Owen stopfte seine Hände in die Taschen seiner Jeans. »Jetzt weißt du es jedenfalls.«
»Noch einmal bitte
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