Lilith Parker: Insel Der Schatten
hinter einem Mauervorsprung, um dem kalten Wind, der vom Meer über die Insel hinwegfegte, zu entgehen. Lilith konnte ein herzhaftes Gähnen nicht mehr unterdrücken. Sie hatten gerade eine Doppelstunde Sport hinter sich. Anfangs war Lilith wegen ihrer Verletzung an der Hand beim Volleyballspiel als Schiedsrichterin eingeteilt gewesen. Schließlich hatte ihre Lehrerin sie jedoch entnervt in die Umkleidekabine geschickt und ihr empfohlen, bei der nächsten Sportstunde ausgeschlafen zu erscheinen, ansonsten gäbe es eine Strafarbeit. Anstatt das Spiel zu verfolgen, war Lilith nämlich versehentlich eingedöst.
Nachdem Hannibal heimgekehrt war, hatte sich Lilith geweigert schlafen zu gehen, ehe sie nicht wusste, wie es um ihn stand. Erst als Emmas Mutter mit ihrem Hexennotfallkoffer gekommen war, Hannibal versorgt hatte und es dem Hund den Umständen entsprechend gut ging, war sie zu Bett gegangen. Nachdem Mildred gesehen hatte, wie schrecklich Hannibal zugerichtet war, war sie blass geworden und hatte zugeben müssen, dass Lilith mit ihrer Schilderung nicht übertrieben hatte. Sie wurde gar nicht müde zu wiederholen, wie viel Glück Emma und Lilith gehabt hatten.
Schon wieder gähnte Lilith. Immerhin war ihre Sportlehrerin heute gnädig gestimmt gewesen und hatte die Mädchen vor der Pause etwas früher aus dem Unterricht entlassen, sodass der Schulhof momentan noch ruhig und bis auf die wenigen Mädchen fast leer war. Emma hatte Lilith gerade erzählt, dass ihr Vater und die anderen in der vergangenen Nacht einen der Werwölfe verblutet im Wald gefunden hatten. Den anderen hatten sie bis zum Friedhof verfolgt und eingefangen. So wie es aussah, war Bonesdale nun wieder sicher.
»Bin ich froh, dass du endlich alles weißt«, seufzte sie erleichtert auf. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schlimm es ist, wenn man sich nicht verplappern darf.«
»Leider werde ich es bald wissen«, prophezeite Lilith düster. »Ich musste meiner Tante hoch und heilig versprechen, Matt nichts von all dem zu erzählen. Es ist anscheinend schon schlimm genug, dass er von den Dingen weiß, die ich bisher herausgefunden habe.«
»Gegen diese Regel dürfen wir nicht verstoßen!« Emma warf Lilith einen kritischen Blick zu. »Darüber bist du dir doch im Klaren, oder? Wir dürfen Matt nicht einweihen!«
»Ist ja gut, ich verrate nichts.«
Mildred hatte sich am Frühstückstisch schon ausgiebig zu diesem Thema geäußert. Sie hatte Lilith erklärt, dass sie ihre Welt schützen mussten und man sich nicht jedem anvertrauen konnte, der auf der Insel auftauchte und ganz sympathisch zu sein schien. Eine der wichtigsten Grundregeln in der Gemeinschaft der Untoten, so machte Mildred ihr deutlich, war, dass ausschließlich Familienangehörige in das Geheimnis eingeweiht werden durften, und wer sich nicht daran hielt, wurde schwer bestraft.
»Diese Heimlichtuerei, dieses Lügen – jetzt geht alles genauso weiter, nur dass ich es bin, die Matt anlügen muss«, stellte Lilith betrübt fest.
»Für ihn ist es besser, wenn er den Glauben an die Welt behält, die er kennt«, behauptete Emma.
»Aber warum habt ihr dann überhaupt zugelassen, dass Matt und seine Mutter nach Bonesdale ziehen?«
»Wie mir meine Mutter erzählt hat, wollte Matts Mutter einfach nicht lockerlassen. Sie hat sogar einen Beschwerdebrief an das Parlament geschickt, weil wir andauernd Gründe vorgeschoben haben, um ihren Umzug zu verweigern. Wir hatten keine Wahl. Deswegen hat man ihr dieses Häuschen außerhalb von Bonesdale gegeben, in der Hoffnung, dass sie dort nicht so viel von unserer wahren Welt mitbekommt.«
»Und in einem Haus auf dem Henkershügel gibt es sicherlich unzählige Geister, die den beiden so viel Angst einjagen sollten, dass sie fluchtartig die Insel verlassen«, tippte Lilith.
»Nein, da liegst du falsch«, widersprach ihr Emma. »In dem Haus der O’Conners spukt es so gut wie gar nicht. Der Henkershügel diente eher der Abschreckung. Er wurde nämlich nur ein einziges Mal benutzt. Allerdings dachten wir tatsächlich, dass sich Matt und seine Mutter im Haus unwohl fühlen würden, wenn nachts ein geisterhaftes Flüstern zu hören ist und Schatten durch die Zimmer huschen.« Emma schüttelte nachdenklich den Kopf. »Seltsam, dass ihnen das nichts ausmacht.«
»Bisher haben sie jedenfalls noch nichts Ungewöhnliches bemerkt. Matt schläft nachts wie ein Murmeltier und Eleanor sitzt mit Kopfhörern an ihrem Laptop, um an ihrem Buch zu
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