Lilith Parker: Insel Der Schatten
hatte, große Angst gemacht.« Mildred stand auf und wischte in Gedanken versunken einige unsichtbare Krümel von der Tischplatte. »Es war nicht leicht für ihn. Unser Vater hat ihn kaum beachtet. Als Joseph die Insel vor dreizehn Jahren verlassen hat, schwor er, nie wieder hierher zurückzukehren.«
Lilith blickte traurig zu Boden. Ihr Vater musste es schwer gehabt haben. Geister, Dämonen, Zombies, lebende Skelette – all diese Dinge würden die meisten Kinder in Angst und Schrecken versetzen. Doch als Sohn eines Nocturi hatte man sicherlich erwartet, dass er aus einem etwas anderen Holz geschnitzt war. Langsam begann Lilith zu verstehen, warum ihr Vater seiner Heimat den Rücken zugekehrt hatte.
»Aber eines verstehe ich nicht«, Lilith sah mit zusammengezogenen Augenbrauen auf. »Warum hat er mich dann überhaupt hierhergeschickt?«
»Hier bei uns gibt es einfache Möglichkeiten zu testen, ob jemand zu der Welt der Untoten gehört. Dein Vater hat anscheinend den konkreten Verdacht, dass du latente Kräfte besitzt. Weißt du, was er damit gemeint haben könnte?«
Lilith schüttelte den Kopf.
»Bitte denk nach!«, bohrte ihre Tante weiter. »Gab es irgendwelche seltsamen Vorkommnisse, die dir im Beisein deines Vaters widerfahren sind?«
Lilith versuchte, sich an ihre letzten Tage mit ihrem Vater zu erinnern, an irgendetwas, das, wie ihre Tante es nannte, außergewöhnlich war. Doch vor ihrem inneren Auge tauchte immer nur dasselbe Bild auf: Wie er in seinem Arbeitszimmer gesessen hatte, über Büchern und Unterlagen versunken, und Lilith kaum eines Blickes gewürdigt hatte. Im Moment herrschte in ihrem Kopf zu viel Durcheinander, zu viel Chaos. Sie hatte noch so viele Fragen. Besonders eine brannte ihr so sehr auf der Seele, dass sie nur halb wahrnahm, wie Mildred ihr gerade gestand, dass sie Josephs Brief, in dem er sie bat, Lilith alles zu verschweigen, völlig unvorbereitet getroffen hatte – immerhin hatte an diesem Abend unter anderem ein Skelett mit Partyhütchen und Willkommenstorte bewaffnet Liliths Ankunft in der Küche erwartet.
Lilith brauchte all ihren Mut, um ihrer Tante mit festem Blick ins Gesicht zu sehen. »Hatte er denn recht? Habe ich irgendwelche Kräfte?«
Noch ehe ihre Tante antwortete, konnte Lilith an Mildreds angespannten Gesichtszügen die Antwort ablesen.
»Es tut mir leid, aber ich habe dich gleich in den ersten Tagen nach deiner Ankunft geprüft und ich bin mir sicher, dass du keine von uns bist.«
Lilith wich Mildreds Blick aus. Seltsamerweise hatte sie einen dicken Kloß im Hals. Warum war sie nur so enttäuscht? Noch vor wenigen Stunden wusste sie schließlich überhaupt noch nichts von dieser Welt … Sie war über sich selbst erstaunt, wie sehr sie sich danach gesehnt hatte dazuzugehören.
Mildred legte ihr tröstend die Hand auf den Arm. »Ich weiß, das ist kein schönes Gefühl. Deswegen wollte dein Vater auch, dass wir dir erst dann von unserer Welt erzählen, wenn du dich an deinem 13. Geburtstag gewandelt hättest. Andernfalls hat er mir die Adresse eines Internats hinterlassen, in das ich dich hätte schicken sollen, während er noch in Burma ist. Er wollte dir die Enttäuschung, die auch er erleben musste, ersparen.«
Lilith schluckte schwer und schlug schuldbewusst die Augen nieder. Sie war so wütend auf ihren Vater gewesen, hatte ihm wegen der Heimlichkeiten, die er angezettelt hatte, in Gedanken wüste Vorhaltungen gemacht. Nun, da sie die Wahrheit kannte, wurde ihr bewusst, wie besorgt er um sie gewesen sein musste. Matt hatte mit seiner Vermutung recht behalten: Die Hauptsorge ihres Vaters hatte allein darin bestanden, seine Tochter zu schützen. Was hätte sie jetzt dafür gegeben, sich in seine Arme werfen zu können oder wenigstens seine Stimme zu hören.
Als ob sie Liliths Gedanken gelesen hätte, setzte sich Mildred neben ihre Nichte und drückte sie ganz vorsichtig an sich.
»Nun kennst du unser Geheimnis, Lilith, und auch wenn du keine Nocturi bist, so bist du natürlich ein Teil unserer Gemeinschaft. Du gehörst hierher – schon allein, weil du die Tochter von Cathy bist.«
Als Mildred den Namen ihrer Mutter erwähnte, richtete sich Lilith ruckartig auf. »Meine Mutter hat hier in Bonesdale gelebt, nicht wahr? Sie war eine von euch?«
»Deine Mutter war eine sehr begabte Banshee. Bei den Menschen sind Banshees besser bekannt als Todesfeen«, erklärte Mildred. »Cathy hatte wirklich außergewöhnliche Fähigkeiten. Was bei der
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